Alfred Brendel spielt Schumann und Brahms
Begegnungen mit Alfred Brendel, seien sie in Person, in Büchern oder durch Aufnahmen, haben stets etwas Erhellendes. Der Geist, den Brendel in Gesprächen beweist – und den man erneut in seinem neuesten Buch »Die Dame aus Arezzo« erfahren kann (unsere Rezension folgt in Heft 29) – beflügelt seine Interpretationen nicht minder. Obwohl sich der Pianist – in seiner Konsequenz vollkommen richtig, wenn auch bedauerlich – von der Bühne zurückgezogen hat, führt er dennoch ein bewegtes Leben, reist, hält Vorträge, betreut Schüler, beschäftigt sich mit Bildender Kunst (schreibt Bücher) …
In den letzten Jahren hat Alfred Brendel immer wieder von sich hören lassen und eine Reihe »The-artist’s-choice«-CDs veröffentlicht, also Aufzeichnungen, die vor seinem kritischen Ohr – auch bezogen auf die Aufnahmequalität – weiterhin bestehen. Neben Zusammenstellungen bereits bekannter Ausgaben waren vor allem Radiomitschnitte darunter, thematisch geordnet oder einfach Lieblingsstücke. Dieses Kontingent wurde nun um eine CD erweitert, die erstmals zwei Radiomitschnitte des ORF herausbringt: eine Aufnahme von Robert Schumanns Klavierkonzert a-Moll, entstanden 2011 mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Sir Simon Rattle im Wiener Musikverein, sowie Johannes Brahms‘ Variationen und Fuge über ein Thema von Händel Opus 24, mitgeschnitten im Juni 1979 im Großen Konzerthaussaal Wien.
Beides sind Konzertübertragungen gewesen, nicht nur ein paar unvermeidliche Huster sowie ein spontaner Klatscher nach der 15. Variation Brahms‘ zeugen davon, sondern ebenso die unverminderte Frische (und Spontanität), welche die Aufnahmen nach wie vor haben – immerhin sind siebzehn (Schumann) und sogar 38 (!) Jahre (Brahms) seitdem vergangen!
Natürlich ist Schumanns romantisches Konzert mit einem exquisiten Kenner der Materie ein Schau- bzw. Hörstück an sich, die Aufnahme verströmt außerdem die Aura etwas Einzigartigen, Individuellen. So stehen die Mikrophone offenbar nahe an den Instrumenten, was einerseits den (von Schumann gewünschten) sinfonischen Charakter stützt, andererseits und gerade bei den Bläsersoli einen kammermusikalischen Eindruck hervorbringt. Wer das Werk kürzlich im Konzert gehört hat oder aktuelle Aufnahmen mit großem Orchester kennt, muß sich vielleicht ein wenig einhören, indes nehmen gerade solche Feinheiten ein und offenbaren noch in manchen Eigentümlichkeiten ganz charmant die Wiener Phrasierung – vom Klarinettisten und Oboisten bis hin zu den schmachtenden Seufzern in den Violinen! Im zweiten Satz kann man Alfred Brendel bedächtig schreiten hören, bevor er im dritten – mit unverminderter jugendlicher Kraft – noch einmal losstürmt.
Für den zweiten Teil sollte sich der Hörer gerne eine kurze Pause gönnen, ohnehin gilt es zu überlegen, ob man nicht gleich noch einmal zum Anfang zurückspringen möchte. Wer weitergeht, betritt eine ganz andere Welt: jene von Brahms.
Im Charakter bleibt das Thema zunächst noch bei Händel, doch schon mit der ersten Variation gleitet es in romantische Gefilde. Alfred Brendel beläßt dem Anfang auch auf dem Steinway einen Hauch Cembalo, um hernach die Variationen mit Feingeist und Artikulation zu durchstreifen. Blühend romantisch, in dunklen, schweren Farben, schimmern die Variationen 9 und 13, wohingegen 11 und 14 mit großer Leichtigkeit hervorsprudeln. Die 15. gelang dem Pianisten so mitreißend, daß sich der Applaus eines Zuhörers sogleich entladen wollte (passiert am 4. Juni 1979). Doch Schluß war hier noch nicht, denn Brahms und Brendel holten noch einmal weit aus, nahmen einen großen Steigerungsbogen, der sich ab der Variation 18 immer mehr verdichtete, um sich in den abschließenden (28 und 29) zu entladen. Von hier ging’s geradewegs in die meisterhaft vorgetragene Fuge. Der Pianist zeigt: Maß und Ordnung können auch im romantischen Überschwang erhalten bleiben.
Alfred Brendel »Live in Vienna«, mit Robert Schumann: Klavierkonzert a-Moll Opus 54, Wiener Philharmoniker, Sir Simon Rattle sowie Johannes Brahms: »Variationen und Fuge über ein Thema von Händel« Opus 24, Konzertmitschnitte, Decca / ORF
24. Mai 2018, Wolfram Quellmalz