David Fray mit den Goldberg-Variationen in der Dresdner Frauenkirche
Egal, ob die Legende nun zutrifft, daß Graf Keyserlingk sich eine Musik bei Johann Sebastian Bach bestellt habe, die sein Cembalist Goldberg spielen sollte, ihm in schlaflosen Nächten die Zeit zu vertreiben, ein Werk »zum Einschlafen« ist das BWV 988 ganz gewiß nicht. Das konnten die zahlreichen Besucher am Sonnabend in der Frauenkirche erleben.
David Fray gilt seit langem als Experte für die Werke Johann Sebastian Bachs (wie für jene Schuberts), erst vor kurzem hat er die zweite Serie Klavierkonzerte (Cembalokonzerte) auf CD vorgelegt. Obwohl der Franzose immer wieder betont hat, wie wichtig ihm andere Pianisten, vor allem Wilhelm Kempff gewesen sind, mag man ihm eine Rückwärtsgewandtheit jedoch nicht attestieren. Im Gegenteil gelingt es ihm immer wieder, mit Werkverständnis und der Erfahrung unserer Tage eine Klangästhetik zu beschwören, wie sie einem Wilhelm Kempff entsprochen hat. Von derlei Vorschußlorbeer ließen sich zahlreiche Zuhörer anlocken – daß in der Unterkirche der Frauenkirche alle Plätze um den Flügel besetzt sind, also selbst jener Block hinter dem Klavier, hat der Rezensent noch nicht erlebt.
Den Erwartungen wurde David Fray wohl gerecht, obwohl er – so kennt man ihn eigentlich nicht – mit einem Tuch zwischen den Variationen ständig Tastatur und Stirn wischte, was zumindest den Spannungsbogen über das Gesamtwerk etwas minderte. Vielleicht lag es einfach daran, daß jahreszeitliche Infekte auch an Pianisten nicht spurlos vorbeigehen. Daß Fray sich die Noten auf den Steinway legen ließ, kann man dagegen als erfreulich uneitel ansehen – dem Zwang, das Publikum durch Auswendigspielen großer zyklischer Werke zu beeindrucken, unterliegt der Pianist also nicht, das Notenbüchlein blieb indes geschlossen …
Versonnen klang die Aria durch den Raum, wozu Fray die Obertöne perlen ließ, ein paar heftige Huster im Publikum ließen zunächst schlimmstes vermuten, doch blieb es – gottlob! – erspart. Vielleicht hat der Sonnenstrahl, den David Fray immer wieder aus seinem Instrument zauberte, für ausreichend Wärme gesorgt, sämtliche »Frösche« zu verjagen?
Bachs Meisterwerk verblüfft den Zuhörer nicht nur mit seiner (auch mathematisch oder architektonisch nachvollziehbaren) Vielfalt der Struktur, es stellt darüber hinaus die Frage, wie man es auffassen möge. Als Variationsfolge? (Zu wenig.) Als Charakterstudien? (Sind es nicht, zumindest nicht im Schumann’schen Sinne.) Vielleicht sollte man derlei Gedanken einfach verdrängen, David Fray zumindest gelang es, beide Ansätze zu verbinden. Er schuf ein stimmiges Gegenüber, eine Balance der Läufe, wo sie sich durchdringen, immer wieder aber durchpulste ein beschwingter Rhythmus die Folge. (Hier nun störten die Wisch-Pausen manchmal, die ein attacca verhinderten.) Immer wieder schien eine klarsichtige Stimme durchzudringen, wie in Variation V, der ein ruhiger Fluß folgte, dem Fray die Perlen einzelner Tupfer mit der rechten Hand aufsetzte. Dann wieder verriet der Pianist eine ungeheure Spielfreude, wie in Variation XI.
Das beschwingte ist nach wie vor ein bestimmendes Element in Frays Bach-Interpretation (das war es schon vor über zehn Jahren, als er seine erste Einspielung vorlegte und mit dem Münchner Kammerorchester unterwegs war, die NMB berichteten damals aus Erfurt). Auch bei annähernd eineinhalb Stunden stellte sich keine Ermüdung ein, weder beim Spieler noch bei den Zuhörern. Die wollten gerne mehr – »nur was, nach Goldberg?« fragte der Pianist da. Am besten einen Choral, wie ihn Wilhelm Kempff für das Klavier bearbeitet hat. »Nun komm‘ der Heiden Heiland« als großartiges Schlußwort.
3. März 2019, Wolfram Quellmalz
CD-Tip: Johann Sebastian Bach, Klavierkonzerte BWV 1060-1063,1065, David Fray, Jacques Rouvier, Emmanuel Christien, Audrey Vigoureux, Orchestre National du Capitole de Toulouse, erschienen bei Erato