Herbert Blomstedt bringt den Leipzigern Wilhelm Stenhammar nahe
Es ist schon unglaublich: die geradezu blühende Jugendlichkeit, mit der Herbert Blomstedt auftritt, läßt sich nicht nur an der erstaunlichen Elastizität seiner Bewegungen ablesen, sie ist auch geistig gegeben. Nach wie vor ist der Dirigent aufgeschlossen für neues, für zeitgenössische Musik, für neue Begegnungen. Und so verwundert es nicht, daß er, statt sich auf bekannte Werke und Partnerschaften zu verlassen, sich im Großen Concert des Gewandhausorchesters einem »neuen« Pianisten zuwandte: Igor Levit feierte mit Ludwig van Beethovens drittem Klavierkonzert gestern abend seinen Einstand im Haus.
Weich, federnd eröffnete das Orchester das Allegro con brio. »Con brio« möchte mit (fast) feurigem Schwung wiedergegeben werden. Trotz eines sehr romantischen Gestus‘ sorgte Herbert Blomstedt dabei für eine klare Akzentuierung. Igor Levit fügte sich federnd darin ein, offenbarte aber schnell auch manche kontrastreiche Härte. Einen wahrlich Beethoven’schen Impetus kehrte er immer wieder heraus, berückend poetisch waren seine Piani, die in der Feingliedrigkeit exakt zum Orchester paßten. Das war vielleicht das Verblüffendste, wie sich Herbert Blomstedt »auf Tuchfühlung« Levits Interpretation anschloß und die Orchesterstimmen austarierte.
Das führte zu manchen kammermusikalischen Momenten, manchmal blieb Igor Levit noch »darunter«, also beinahe unter der Wahrnehmbarkeitsgrenze. Das mag zum einen Beethovens Klangvorstellungen entsprochen haben, der das Klavier auch nutzen mochte, um das Duett aus Fagott und Flöte in einen (damals noch nicht bekannten) »impressionistischen« Hintergrund zu betten. Levits Konsequenz schien dennoch manchmal noch mehr vom Gedanken befruchtet als dem harmonischen Zusammenspiel dienlich. Daß er seinen Part in zwei Polen (poetisch und expressiv) zuspitzte, mag man gewöhnungsbedürftig finden, das Gewandhauspublikum zumindest ließ sich begeistert hinreißen und bekam dafür eine Bach-Bearbeitung (»Nun komm‘ der Heiden Heiland«) präsentiert. Die Partnerschaft von Igor Levit und Herbert Blomstedt war bereits jetzt innig, und man darf gespannt sein, ob und wie sie noch wächst.
Nach der Pause dann folgte – als Erstaufführung im Hause – Wilhelm Stenhammars zweite Sinfonie. Es ist eines jener Werke, die der Entdecker Blomstedt auch anderen entdeckt und sie damit begeistert. Dunkel beginnt das Werk mit Violen und Violoncelli, läßt einen herben Charme wachsen und drängt zum Licht, so wie der Tag aus der Morgendämmerung erwächst. Den volkstümlichen Einstieg kann man als Aufforderung, sich anzuschließen, verstehen, spätestens mit den leuchtenden Blechbläsern (eine hervorragende Posaunengruppe!) war man »drin«.
Stenhammars Sinfonie lebt nicht von der Umformung (wie bei Bruckner), sie ist vielschichtig, fast als könne man sie aufblättern. Sinfonische Metamorphosen waren das, was Herbert Blomstedt hier mit dem Gewandhausorchester aufführte, und die Musiker zeigten sich nicht nur inspiriert, sondern erfahren im Umgang mit dem »nordischen« Material. Da fragt man sich, warum das Stück erst jetzt in den Spielplan gekommen war.
Schichtungen und Webungen, denen ein Herzschlag der Pauke Leben (Andante) einhauchte, immer wieder spiegelten Bläser eine Stimmung, führten Liegetöne in neue Abschnitte über, und trotz mancher dunkler oder herber Färbung war das Werk im ganzen frei, das Scherzo ungemein gelöst.
Das Finale war eine Gipfelwanderung, Holzbläser lösten ein Crescendo auf, bevor das Orchester – als läge sie hinter einer Wegbiegung – in die Schlußapotheose überleitete. Danach ließen sich die Musiker nicht nur zwei-, sondern dreimal bitten, bis sie aufstanden – eine Verneigung vor Herbert Blomstedt, das Publikum stand längst. Den Applaus lenkte Blomstedt auf die Partitur, klopfte mit der Hand darauf, als wollte er sagen »habe ich da nicht ein famoses Werk mitgebracht?« Ja, hatte er!
29. März 2019, Wolfram Quellmalz