Klavierabend mit Krystian Zimerman im Gewandhaus zu Leipzig
Johannes Brahms‘ Klaviersonaten stehen selten auf den Programmen der Pianisten. Manchmal noch die dritte, Jefim Bronfman spielte sie zum Beispiel. Gestern füllte sie die erste Hälfte des Klavierabends mit Krystian Zimerman aus. »Ausgefüllt« war auch der Große Saal des Gewandhauses – kein Platz mehr frei, ausverkauft! Das ist bemerkenswert, erfreulich, denn nicht immer folgen so viele, selbst wenn Erlesenes geboten wird.
Johannes Brahms‘ Opus 5 entzieht sich einer formalen Einordnung insofern, daß es sowohl den Umfang (fünf Sätze) sprengt als auch den Charakter der Teile teilweise frei interpretiert. Zwischen den gewichtigen Ecksätzen finden sich sublime Intermezzi und lyrische Gesangsstücke.
Dies zu offenbaren, das Schatzkästchen zu öffnen, war Krystian Zimerman ein leichtes, eine Herzensangelegenheit (wie man später noch bestätigt fand). Temperamentvoll, eruptiv eröffnete er mit den ersten Akkorden die Sonate, um den Widerhall sogleich poetisch auszukosten. Zimerman fand beides und verband es: die Expressivität des Ausschreitens und den lyrischen Schmelz des Genießens, und hat damit wohl den sanguinischen Charakter Brahms‘ gut getroffen. Nicht in schroffen Gegensätzen zeichnete er dessen Werk, sondern verband die impulsiven Ausbrüche, ließ sie zurückgleiten in feinsinniges, inneres Glühen.
Solch Stimmung läßt sich nicht einfach »fabrizieren«, sie verlangt nach Anschlagskultur, nach Pedalgefühl, nach Artikulation und Agogik – davon bot Krystian Zimerman den Publikum (und Johannes Brahms) reichlich. Und ließ sich Zeit, den Schlußton jeweils ausklingen, ihn genießen zu lassen, denn mit dem folgenden Satz beginnt jeweils eine neue Episode – bloßes Stürmen durfte da nicht sein. Einzelne ließen sich durch diese Andachtspause zu Zwischenapplaus verleiten – Krystian Zimerman indes nahm es mit Geduld und Ruhe hin, und mit Humor: als vor dem letzten Satz einmal kein Applaus aufkam, schaute er in die Richtung einer zuvor ausgemachten »Quelle«, als wollte er fragen: »Na …?«
Von da ging es noch einmal – ein brahms’scher Ausbruch – zu einem Tanz über die Tasten. Doch nicht wilde Berserkerei war es, die Brahms wollte, und selbst der sinfonische Anspruch gibt den Charakter des Allegro moderato ma rubato nur unzureichend wieder – hier konnte man noch einen emphatisch singenden Chor im Klavier hören!
Die vier Scherzi Frédéric Chopins, welche nach der Pause folgten, offenbarten ganz andere Welten. Lichtdurchbrochen, virtuos – mitunter rasend – gebärdete sich Krystian Zimerman und legte jede Zurückhaltung ab. Chopin, so sagt man, habe so nie gespielt – weil er es nicht konnte. Er war dazu schlicht physisch nicht in der Lage und soll einem Schüler, bei dessen Spiel die Saiten rissen, begeistert applaudiert haben. Kraftvoll, mit lebensvollem Aufschwung, zeichnete Krystian Zimerman die Stücke, zeigte deren rhapsodische Qualitäten ebenso, wie manche étudenhafte Passage (h-Moll, Opus 20). Und doch schien der Pianist hier ein wenig manieriert, vor allem mit dem Schluß der Scherzi sehr auf den Effekt bedacht, auf jeden Fall um den Eindruck nicht verlegen. Das war mit Sicherheit ein kräftezehrendes Spiel, wie man im dritten Scherzo (cis-Moll, Opus 39) bemerken konnte, während das letzte (E-Dur, Opus 54) mit der Leichtigkeit eines Intermezzos begann. Zwar träumerisch, ließ Krystian Zimerman es aber dennoch nicht ganz frei.
Doch er kann, wie sich noch zeigte, denn mit der Rückkehr zu Brahms und dessen späten Klavierstücken gönnte Krystian Zimerman sich (sowie Brahms und dem Publikum) nun ein zärtliches Streicheln. Da blieb ihm nur noch, den Klavierdeckel zu schließen, denn nun war sein letztes Wort gesagt.
14. Mai 2019, Wolfram Quellmalz
Auch im kommenden Jahr gibt es große Klavierabende im Gewandhaus zu Leipzig. Neben Daniil Trifonov und Lang Lang (mit den »Goldbergvariationen« in der Thomaskirche) wird dann auch Jewgenij Kissin erwartet. Mehr dazu unter: https://www.gewandhausorchester.de/