Der Klang von Notre-Dame auf CD
Blättert man das informative Beiheft Olivier Latrys neuester Aufnahme auf, liest man als Komponistennamen auf dem Innendeckel: »Jean-Sébastian Bach«. Das ist so herzerfrischend wie charmant, und – wer weiß? – vielleicht hätte es Johann Sebastian Bach selbst gefallen? Er wäre nicht der einzige – Chopin »französisierte« seinen Namen, Händel wurde englisch, Mozart – je nach Situation – mehr italienisch oder französisch, und selbst Heinrich Schütz latinisierte sich »Henricus Sagittarius«. Statt »Bach to the future« hätte es also auch gerne »Bach pour l‘avenir« heißen dürfen …
Selbstredend sind Orgelaufnahmen von solcher Dimension immer interessant und eine Besprechung wert, außerdem hatten wir mehrfach Gelegenheit, Olivier Latry in Konzerten während seiner Dresdner Residenz zu erleben (Rezensionen finden Sie auf unserer Seite). Kurz nach Erscheinen der CD erfuhr sie jedoch durch ein großes Unglück zusätzliche Aufmerksamkeit: am 15. April brach an der berühmten Kathedrale Notre-Dame de Paris ein Feuer aus, und wer dachte bei den Schreckensbildern nicht auch an deren berühmte Orgel? Nur ein gutes Vierteljahr zuvor, zwischen 6. und 8. Januar, hatte Olivier Latry seine neue Aufnahme an dem Instrument eingefangen …
Heute wissen wir: die Orgel wurde nicht zerstört. Sie ist beschädigt, aber offenbar weniger als zunächst befürchtet. Es gibt sogar bereits Ideen, das Instrument noch während des Wiederaufbaus der Kathedrale erklingen zu lassen. Bis dahin wird es jedoch noch dauern (zumal, wie Meldungen aus dieser Woche sagen, das Gewölbe der Kathedrale immer noch einsturzgefährdet ist), und so müssen sich Orgelfreunde vorerst mit dieser aktuell letzten (im Sinne von zuletzt angefertigten) Einspielung begnügen. Es ist jedoch ein Begnügen mit Vergnügen! Und mit Erschauern, denn dem Aufnahmeteam ist es wohl gelungen, einen Raumklang, den Raumklang von Notre-dame, auf die Scheibe zu bannen.
So wie Olivier Latry in Dresden sein Programm »Bach und die Romantiker« mit Bearbeitungen Franz Liszts, Robert Schumanns oder Eugèn Gigout spielte und dann meinte, daß es schon »etwas komisch« sei, den barocken, protestantischen Bach in einer katholischen Kirche an einer Cavaillé-Coll-Orgel zu spielen, hat er sich auch dem »originalen« Bach für diese Aufnahme ganz be- und durchdacht genähert. Denn, so schreibt er im Beiheft, Bach auf einem modernen Klavier zu spielen (was für uns selbstverständlich ist), sei schließlich ebenso eine Transkription. Warum also nicht Bach in Notre-Dame?
Wer sich die Aufnahme anhört, fühlt sich unweigerlich in den Raum einer (der) Kathedrale versetzt. Wie dämmerndes Licht erhebt sich als erstes Stück das Ricercare à 6 (BWV 1079) mit Sanftheit und Kraft gleichermaßen, um ebenso einen versöhnlichen, frohen Abschluß zu finden.
Eines der schönsten, frohesten Stücke ist die Choralbearbeitung »In dir ist Freude« (BWV 615), in welchem der Organist das Glockenspiel von Notre-Dame geschickt und sinnreich einbezieht (was die CD um so mehr zum Zeitdokument macht). Es sind gerade diese Choräle (oder -bearbeitungen), wie »Erbarm‘ dich mein, o Herre Gott« (BWV 721) sowie »Herzlich tut mich verlangen« (BWV 727), die zu Ohren und zu Herzen gehen und die Eleganz des Instrumentes sowie seines Spielers beweisen. Darüber hinaus fehlen natürlich jene Meisterwerke nicht, auf deren Meisterschaft sich Bachs Berühmtheit gründet, wie Fugen (g-Moll / BWV 578 und 542) oder (auch wenn deren Urheberschaft nicht restlos geklärt ist) die berühmten Toccata und Fuge d-Moll (BWV 565). In der der Fuge 542 vorangestellte Phantasie beweist Olivier Latry, zu wieviel Feingliedrigkeit und Durchhörbarkeit das große Instrument von Notre-Dame in der Lage ist (gleiches trifft für die Phantasie G-Dur BWV 572 zu). Dabei bleiben die Farbigkeit und die vielfachen Charaktere beeindruckend.
Und auch auf das Instrument geht der Organist im Beiheft der schmucken Ausgabe ein, denn die große Cavaillé-Coll-Orgel ist natürlich viel mehr: den Grundpfeiler bzw. wie Grundpfeifen setzte Frédéric Schambantz bereits zu Beginn des 15. Jahrhunderts. Seither wurde die Orgel von weiteren Meistern ergänzt und erweitert – die Werkstatt von Aristide Cavaillé-Coll war die wichtigste, welche den Charakter am nachhaltigsten prägte, aber nicht die einzige.
Und wie spielt man nun Bach an einer Orgel in einer katholischen Kirche mit einer Nachhallzeit von über sieben Sekunden? Mit Verständnis für die Musik, für das Instrument und den Raum. Diese drei nennt Olivier Latry als Grundpfeiler einer gelungenen Aufführung. Daher hat er selbst die Stücke, die er schon lange spielt, noch einmal neu gelernt, sich mit Bearbeitungen (wie für Orchester von Leopold Stokowski) und Registrierungen (unter anderem von Franz Liszt / Johann Gottlob Töpfer, Karl Straube und Helmut Walcha) befaßt.
Mit der prachtvoll wachsenden Passacaglia c-Moll (BWV 572) schließt die CD – vorläufig. Sie bietet mehr als fast 78 Minuten Hörgenuß und Lesevergnügen. Ihre Nachhaltigkeit wird darin bestehen, daß sie oft aufgelegt und gerne verschenkt oder weitergegeben wird. Olivier Latry, Notre-Dame und allen Orgelfreunden kann man nur wünschen, daß die »Brückenzeit« dafür möglichst kurz sein wird!
Olivier Latry »Bach to the future«, Werke von Johann Sebastian Bach auf der Großen Cavaillé-Coll-Orgel in Notre Dame de Paris, La dolce volta
5. Juni 2019, Wolfram Quellmalz