Gewandhausorchester mitten in neuem Zyklus
Vor wenigen Jahren hatte das Gewandhausorchester sämtliche Orchesterwerke mit dem damaligen Gewandhauschef Riccardo Chailly im Konzert gespielt und den Zyklus anschließend auf CD veröffentlicht (2015 / Decca). Nun ist Chaillys Amtsvorgänger Herbert Blomstedt mit den Sinfonien zurück. Nach der ersten vor einer Woche spielte er gestern die zweite, dazu die Tragische und die Akademische Festouvertüre. Die Sinfonien drei und vier folgen im Mai, natürlich wird alles für CD (Pentatone) mitgeschnitten – wie schön!
Natürlich wird man der Sinfonien eines Johannes Brahms‘ nicht müde, und es ist immer wieder beglückend, sie so vollendet zu hören. Dennoch stellt sich die Frage, welche Fassung (oder Auffassung) nun die vollendete sei, gottlob nicht! Herbert Blomstedt hinterfragt seine Auffassung stets, schafft mit jeder Wiederaufführung neu. Dabei schöpft er aus dem Orchester, was dieses vermag – Blomstedt weist weniger an, er kommuniziert mit den Musikern. Und daß das, was sie da gestern boten, zuvor akribisch geprobt war, konnte man in jedem Takt hören.
Auf besondere, aufgesetzte Akzente verzichtet Herbert Blomstedt selbstredend. Was soll man auch hinzufügen? Der oberflächliche Gewinn eines herausgeputzten Effektes wäre kurzlebig und weder eines solchen Dirigenten noch eines solchen Orchesters würdig. Natürlich tun sie so etwas nicht, um so schöner singen die Celli, flechten die Holzbläser (Flöte!) ihre Soli ein, spielt der Chor der Blechbläser rechts hinten auf der Bühne, während die Horngruppe für musikalischen Sonnenschein sorgt. Natürlich ist all das voller Effekt – eben so, wie Brahms es wohl beabsichtigte, oder wie es seinem Naturell entsprach.
Gelöst scheint die zweite Sinfonie, frei strömend und glücklich. Merklich entfaltet sie sich, und Herbert Blomstedt verleiht ihr Struktur, läßt die Pizzicati der Violoncelli sanft pochen, derweil die Violinen larmoyant singen, als schwelgten sie in Erinnerungen.
Der zweite Satz erweist sich als Kern der Sinfonie, ist maßvoll ausgesungen und ausmusiziert – wie schade, daß die Pausen durch so viele Huster und Applaus (!) gestört waren! An Stelle eines Scherzo hat Brahms ein Allegretto gesetzt, das sich mit federnder Leichtigkeit und Soli präsentiert. Im Finale übertraf sich Brahms noch einmal – Oboen und Klarinetten schmückten den gediegenen Rahmen kunstvoll aus.
Die Vitalität der Gewandhausorchesters war bestechend, ebenso wie die des Dirigenten. Selbst wenn er vor den Musikern saß, wirkten seine Anweisungen doch präzise, zielgerichtet und nachdrücklich.
Davon hatten schon die beiden Ouvertüren Johannes Brahms‘ profitiert. Es zeigte sich: es braucht keinen Zierat, es braucht Substanz. Blomstedt legt diese offen, vollkommen unspektakulär, doch wissend, fühlend. So heiter und frech die Akademische Festouvertüre sein kann, erweist sie sich als geschlossenes Ganzes, während man sich fragt, wie man Brahms‘ Opus 81, mit dem der Abend begonnen hatte, auf das Attribut »Tragische« reduzieren konnte.
Fortsetzung folgt …
4. Oktober 2019, Wolfram Quellmalz
heute noch einmal: Herbert Blomstedt (Dirigent) und das Gewandhausorchester, Johannes Brahms, Tragische Ouvertüre, Akademische Festouvertüre und Sinfonie Nr. 2, 20:00 Uhr, Gewandhaus zu Leipzig
Tip: Johannes Brahms: Sinfonien Nr. 3 und 4, 28., 29. und 30. Mai 2020, Gewandhaus zu Leipzig
Die Neuen (musikalischen) Blätter werden den Bericht vom Brahms-Zyklus Herbert Blomstedts weiterführen.