Mit akademischen Ausmaßen

Konzert der Singakademie Dresden

Der Anlaß gibt Gewicht: vor 30 Jahren fiel die Mauer. Was zaghaft und unglaublich mit einem Bröckeln begann, wurde zu einer alles umstürzenden Lawine. Grund genug, des Ereignisses zu gedenken. Erinnern kann das Jetzt relativieren und neuen Auftrieb verleihen – eine Zwischenbilanz oder gar Bilanz zu ziehen wäre verfrüht, denn der Prozeß der Wiedervereinigung ist weder abgeschlossen noch abschließend »bewertet«.

Doch wie ist das epochale Ereignis überhaupt zu fassen? Die Polyphonie der Stimmen und Meinungen scheint kaum in allgemeingültige Worte oder Musik zu »passen«. Singakademie-Leiter Ekkehard Klemm hatte für das Gedenkkonzert am Freitag in der Dresdner Kreuzkirche (einem der geschichtsträchtigen Wende-Orte) Stücke ausgewählt, die historische Bezüge aufwiesen, aber mit dem Augen- und Ohrenzeugen Friedrich Schorlemmer, der 1989 zu jenen gehörte hatte, die den Wandel zu gestalten versuchten, auch dem Wort Platz eingeräumt. Mit einem abschließenden Requiem von Hector Berlioz wurde es ein langer Abend – solche waren zur Beethovenzeit wohl üblich, heute sprengen sie die Grenzen deutlich.

Am faßbarsten erwies sich das Eingangsstück, Wolfgang Rihms »Parusie« Opus 5. Der Titel zielt auf das beteiligte Dabeisein in bezug auf einschneidende Ereignisse. Ob man dies nun an Epochalem wie Christi Wiederkunft, der politischen Wende oder an persönlichen Fährnissen mißt – sieht, hört, auffaßt – liegt im subjektiven Empfinden und der Auslegung jedes einzelnen. »Parusie«, von Martin Schmeding an der Jehmlichorgel entfacht, beginnt mit einem Riß oder Einbruch, Dissonanzen, brechenden Akkorden, die auch im folgenden kennzeichnend blieben. Doch Rihm legt noch die Feinheiten einer mikroskopisch anmutenden Struktur frei, aus denen neues erwächst, bis es wieder weg-, abbricht. Das kurze, von Umwälzungen geprägte Stück ist von einer Polyphonie getragen, deren einzelne Stimmen – nicht harmonisch »kollektiviert« – die große Masse, ein Volk, viele Individuen sein können. Martin Schmeding verstand es klug, die Wucht der Masse herauszuarbeiten und dennoch die Bedeutung kleinster Bestandteile zu erhalten – beeindruckend!

Friedrich Schorlemmer erinnerte vor dem nächsten Stück an die Zeit des Mauerfalls, doch nicht nur im geschichtlichen Rückblick – er legte ein generelles Beteiligtsein nahe, damals und heute, erinnerte an die Kraft, die aus »keine Gewalt!« floß und fokussierte auf den ersten Artikel unserer (heutigen) Verfassung, darauf, daß das Bekenntnis zu den Menschenrechten nicht nur die Rechte einräumt, sondern auch die Pflicht auf eine engagierte Ausübung in sich trägt. Die Kunst könne einen wesentlichen Anteil dabei haben; Kunst könne zu einem respektvollen Umgang, zu einem solidarischen Blick auf den anderen verhelfen, helfen, das Barbarische der Welt zu sublimieren. Ob Friedrich Schorlemmers mahnende, wohlmeinende Worte jeden erreichten?

Jeden erreicht haben dürfte Lothar Voigtländers dritte Sinfonie, die Orgelsinfonie. Gleichwohl war sie das wohl am schwierigsten zu fassende Werk an diesem Abend. Der Komponist hatte sie im Sommer 1989 begonnen, als sich ein Wandel (noch mit unbestimmten Ausgang!!!) ankündigte, doch ist sein Werk kein programmatisches. Den »Mauerfall« darin zu deuten ist ebenso naheliegend wie aussichtslos. Zwar müssen die dramatischen Ereignisse den Komponisten beeindruckt, beeinflußt haben (als er sie mit einer räumlichen Distance von Salzau aus verfolgte), jedoch war er gleichzeitig auf einem Gipfel seines Schaffens von Orgelwerken angekommen – zwei voneinander unabhängige Attribute gerieten damit in Interaktion.

Schon in den Dimensionen ist die Sinfonie unfaßbar. Pauken und Blechbläser der Elblandphilharmonie und der Sinfonietta Dresden eröffneten mit einem Aus- oder Aufbruch, von hier wandelte sich das Werk in einem stetigen, ungebrochen schöpferischen Kraftfluß. Dennoch hat Lothar Voigtländer keine »gewaltige« Musik geschaffen, sondern behielt den differenzierten Blick bei und frei: Vielfalt, Widersprüchlichkeit, Nuancen, Einschnitte, Sichtweisen. Immer wieder verarbeiten Orchestergruppen thematisches Material, treten in einen Dialog, tauschen sich aus. Die Orgel thront dabei über allem, wird aber als Gruppe ebenso in den Stimmen verarbeitet wie Streicher, Holz- oder Blechbläser. In den Verfeinerungen und Verästelungen dürfen zarte Stimmen (Flöte, zweiter Satz) aufschimmern.

Bis dahin wäre es allein schon ein Konzert gewesen, doch hatte eben auch eine noch gefehlt: die Singakademie. Für Hector Berlioz‘ Grand Messe des Morts kamen zu den Orchestern der Elblandphilharmonie und der Sinfonietta Dresden (in ihrem fünfundzwanzigsten Jahr des Bestehens) noch Blechbläser des Heinrich-Schütz-Konservatoriums sowie des Sächsischen Landesgymnasiums hinzu. Auch der Chor der Singakademie Dresden wurde durch den Philharmonia Chor Stuttgart verstärkt. Die erfreulich zahlreichen Zuhörer im vollbesetzten Kirchenschiff und auf den Emporen waren somit von Musik umgeben, denn neben dem Hauptorchester im Altarraum und Martin Schmeding an der Orgel waren Chor (getrennt in Männer- und Frauenstimmen auf den vorderen Emporen) und Blechbläser auf den seitlichen und der Orgelempore verteilt, so daß die Musik aus allen vier Himmelsrichtungen erklang.

Hector Berlioz‘ Grand Messe beginnt nicht wie die meisten Requien mit dem Kyrie eleison, Christe eleison, sondern mit einem Introitus, an den sich das Kyrie anfügt. Während diese Formel sonst in der Regel ein öffnender Anruf voller Zuversicht ist, erscheint sie bei Berlioz (der sein Werk den Toten der Julirevolution von 1830 widmete) mit absteigender Melodie bereits tragisch, beklommen. Im folgenden gibt es Lichtblicke, doch die Beklommenheit bleibt dem Werk erhalten.

Bleibend waren die erstaunlichen sinfonischen Farben, zu welchen nicht nur die Orchester, sondern noch die Chöre in der Lage waren – der Begriff »fulminant« beschreibt den Eindruck, den dies auf die Zuhörer machte, ziemlich exakt. Es ging weniger um das einzelne Wort und die Verständlichkeit als um Stimmung, die Aussage des Ganzen. Immer wieder teilte Berlioz den Chor oder das Orchester, ließ tremolierende Streicher emotionale Bedeutung, ja, Last ausformen. Die Stimmgewalt zu bündeln erforderte differenzierte Führung. Ekkehard Klemm lotete farbige Nuancen aus, formte, gab Richtung und »Höhegrade« klar vor. Berlioz‘ Requiem schließt mit einer Bitte und dem Amen, doch bleibt ihm die bittere Tragik der Ereignisse latent erhalten.

Die beiden Chöre waren der gewaltigen Aufgabe gewachsen und gut »verzahnt«, bewiesen über die lange Strecke gestalterische Ausdauer und dramaturgische Finesse. Gefordert war aber auch das Publikum angesichts des großen Umfangs und des immensen Klangs. Tenor Edward Lee, der die solistischen Passagen des Sanctus zu tragen hatte, merkte man die Bürde insofern an, daß er an seine stimmlichen Grenzen ging, um als Gegenüber von Chor und Orchester mit der Kraft des Klangs zu bestehen, dem er Intonation und Ausdruck spürbar unterordnete.

2. November 2019, Wolfram Quellmalz

Nächstes Konzert der Singakademie: Adventsstern 2019, »Bach | Zeit | Zukunft«, 8. Dezember 2019, 17:00 Uhr, Loschwitzer Kirche

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