Collegium 1704 in der Dresdner Annenkirche
Manche Wunder sind hausgemacht – oder sie sind verdient, stehen einem zu. Nachdem im Frühjahr und Sommer die letzten beiden Konzerte der Spielzeit abgesagt werden mußten, wollten die Prager Alte-Musik-Meister die neue mit einem Sonderkonzert einen Monat früher als ursprünglich geplant beginnen. »Messiah« als Hoffnungsträger und als Belohnung sozusagen. Doch seit dem Ende der Urlaubszeit stiegen die Corona-Fallzahlen wieder, Prag wurde zum Risikogebiet erklärt. Damit stand erneut ein Konzert in Frage – eine Absage wäre nicht nur ein herber Schlag für alle Beteiligten gewesen, sondern nicht zuletzt wirtschaftlich katastrophal für den Chor und das Orchester. Daß die Absage vermieden werden konnte und es sogar gelang, eine Programmänderung zu vermeiden, ist ein riesiges Verdienst des Veranstalters, der in den letzten Tagen emsig am Hygienekonzept arbeitete. Mittwochabend gab es »grünes Licht«, Donnerstagvormittag kamen die erlösenden Pressemitteilungen – »Messiah« findet statt!
Damit ist Georg Friedrich Händels berühmtes Werk auch eines der am häufigsten gespielten Werke des Collegiums geworden. Zuletzt hatte es im Dezember 2019 auf dem Programm gestanden. Doch das minderte »Messiah« um kein Stück Originalität, Intensität oder Faszination. Dieser hatte einen vielleicht ganz besonderen »trotzdem!«-Impuls. Václav Luks versteht es, den Augenblick der Aufführung lebendig zu gestalten, das Werk jedes Mal neu zu schöpfen und ihm einen authentischen, individuellen Klang zu verleihen, ohne daß es »gemacht anders« würde. Daß diesmal vier andere Solisten dabei waren, gab den Rollen eine neue Prägung, im Kern blieb das Werk natürlich unverändert, nicht zuletzt, weil sich Tereza Zimková (Sopran), Markéta Cukrová (Alt), Jaroslav Březina (Tenor) und Roman Hoza (Baß) ganz wunderbar ins Ensemble einfügten.
Zunächst ist »Messiah« aber ein Chorwerk, das aus der prächtigen englischen Tradition kommt, sich ihrer bedient. Selbst ohne die gegenwärtige »Mangelsituation« und die lange Zeit, die das Publikum auf sein Collegium warten mußte, wäre das spürbar gewesen. Das liegt natürlich zu allererst daran, daß Václav Luks wie kein zweiter in der Lage ist, die unterlegte Botschaft einer Musik zu vermitteln, sie emphatisch zu entfachen. Ob die Hoffnung spendende Sinfonietta, lichtvolle Fugen oder Chöre wie »For unto us a Child is born« oder »Hallelujah, for the Lord God« – diese Musik setzte Endorphine frei! Vor allem, weil sie derart intensiv und ausgewogen vorgetragen wurde. Schon mit dem ersten Chor »And the Glorie of the Lord« (»Und die Herrlichkeit des Herrn«) konnte sich das Publikum warm umfangen fühlen – ein wunderbarer Zustand nach über sieben Monaten! Die Steigerung des »Hallelujah« geht nicht ins maßlose, wird nicht grell, erreicht aber dennoch mitreißende Wucht. Zugleich wird deutlich, daß Händel die Idiomatik der (alt)englischen Sprache musikalisch genau erfaßt hat – natürlich kennt man auch deutsche Übersetzungen des »Messias«, aber »wunderbar« berührt nicht annähernd so innig und anhebend wie »wonderful«!
Die Solistenbesetzung für »Messiah« war diesmal neu, mit Markéta Cukrová kehrte allerdings eine Altistin zurück, die bereits mehrfach (2009 / Zelenka, 2011 / Purcell und Ferrandini) aufgetreten war. Und auch Roman Hoza ist dem Collegium vertraut. Dagegen standen Tereza Zimková und Jaroslav Březina erstmalig im Programm. Der Tenor gefiel gleich zu Beginn mit einer bestechenden Diktion, sein Timbre reichte von schmeichelnd-warm bis zum leuchtkräftigen Ruf, auch wußte er prägnante Akzente zu setzen, wie in Accompagnato, Arioso, Accompagnato und Arie im zweiten Teil. Schon seine Arie »Ev’ry valley shall be exalted« (Jedes Tal soll erhöht werden) verkündete pure Lebensfreude. Roman Hozas jederzeit kräftiger Baß war vor allem durch Strahlkraft gekennzeichnet, doch hatte er ausreichend Spannweite für Modulationen und Empfindungen. »The trumpet shall sound« (»Die Posaune wird ertönen«) geriet zur Feuerarie.
Ganz besonders gefiel die Gestaltung von Markéta Cukrová. Sie war nicht zuletzt für zurückgenommene, feine Töne zuständig, fand sich immer wieder in Duettsituationen mit Sopran (»He shall feed His flock like a sheperd« / »Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte«), Tenor (»O death, where is thy thing?« / »Oh Tod, wo ist dein Stachel?«) oder Chor (»O thou that tellest good tidings to Zion« / »Oh du, die du Zion frohe Botschaft verkündigst«), aber auch mit Orchesterinstrumenten wie der Laute – daß man hier immer wieder die zarten Töne durchhörte, gehört zum Gesamterlebnis Collegium 1704.
Auch die Orgel blitzte im Continuo immer wieder durch oder jubelte – typisch für Händel – mit. Betonungen schaffen kann man außerdem durch Pausen. Wehe dem, der hier übertreibt und belehrend wird. Doch Václav Luks bewies selbst darin ein feines Maß. Ob vor Schlußzeilen oder Wiederholungen – der Fluß blieb stets gewahrt, das Ritardando wirkte nie aufgesetzt. Wer solche Nuancen hervorzaubert, das pastorale Schimmern beherrscht, kann auf oberflächliche Effekthascherei verzichten – die blitzblanken Soli von Hans-Martin Rux (Posaune) waren um so beglückender! Er bestrahlte nicht nur »Hallelujah« und »Amen«, sondern unterstrich auch Feuerstöße.
Von »Spektakel« zu sprechen ginge fehl, doch war dieser »Messiah« spektakulär, angemessen und angebracht. Als Zugabe gab es daher keinen »Standard«, sondern den zweiten Chor: Mit »And he shall purify the sons of Levi« (»Und er wird reinigen die Söhne Levis«) ging ein wunderbarer Abend zu Ende.
21. September 2020, Wolfram Quellmalz

Das nächste Konzert der Musikbrücke Prag-Dresden findet am 21. Oktober statt (19:30 Uhr, Annenkirche Dresden). Dann stehen Johann Sebastian Bachs Magnificat in D (BWV 243) und Jan Dismas Zelenkas Missa Omnium Sanctorum (ZWV 21) auf dem Programm. Collegium 1704 und Collegium Vocale 1704, Leitung: Václav Luks