Differenzierte Auslotung

Solo-CD der Violinistin Liv Migdal

Vergangenen Monat hatten wir Liv Migdals Rezital-Konzert in der Dresdner Frauenkirche besucht (unser Bericht: https://neuemusikalischeblaetter.com/2020/10/13/sensible-geigerin/). In der ungewollt stillen Zeit haben wir noch einmal in ihre aktuelle CD hineingehört. Wie im erlebten Konzertprogramm spielt sie darauf Johann Sebastian Bachs Sonate für Violine solo Nr. 3 (BWV 1005) und Paul Ben-Haims Sonate in G-Dur (Opus 44). Zusätzlich ist Béla Bartóks Sonate Sz 117 zu hören.

Liv Migdal beginnt mit Bach, dem Alpha und Omega der Musik, und findet bei ihm fast meditative Ruhe und Struktur. Die Fuga ist ein früher Höhepunkt der CD – fast eine Viertelstunde erstreckt sich das Werk, ändert und wandelt sich, verläßt aber nie sein Fundament. Wie Liv Migdal hier die Spannung hält, zeugt von großer Meisterschaft. Nicht stetiges Wachstum zeichnet den Satz, er ist auch von Neuanfängen und einem Wiedereinsetzen gekennzeichnet und kehrt (Alpha und Omega) zum Ausgangspunkt zurück. Die rhythmische Prägnanz, die Bach dem Stück eingepflanzt hat, findet Liv Migdal im Largo (erneut mit einem beruhigenden Puls) und vor allem im leichtfüßig-flinken Allegro assai wieder.

Während man bei Béla Bartók, mit dessen Sonate die CD schließt, noch Bezüge zu Bach erkennen kann oder um ihre Geschichte weiß, gilt es das Werk Paul Ben-Haims im Konzertbetrieb noch zu deutlicher ergründen. Der als Paul Frankenburger in München geborene Komponist emigrierte als junger Mann (1933), Tel Aviv wurde nun sein Lebensmittelpunkt. Hier setzte er sich unter anderem mit sephardischen Musik auseinander. Bekannt sind von ihm vor allem Vertonungen von Bibeltexten und eine Reihe von Kammermusikwerken. Die Sonate Opus 44, 1951 entstanden, verbindet Anklänge an die traditionelle Musik Palästinas mit der aus Ben-Haims europäischer Heimat. Technisch extrem anspruchsvoll (das Werk wurde für Yehudi Menuhin geschrieben) wechseln virtuose und ausdrucksstarke, gesangliche Passagen. Das stellt den Geiger vor die hohe Aufgabe, nicht nur brillant, gar sportiv zu spielen, sondern dem Stück eine Seele einzuhauchen, ohne jedoch zu effektvoll vorzugehen. Liv Migdal gelingt dieser Spagat auf betörende Weise, womit sie dem Werk Lebhaftigkeit und Innigkeit gleichermaßen gibt – sehr zum Gewinn des Zuhörers.

Und so offenbaren sich schließlich Parallelen zwischen Ben-Haim und Bartók, deren Werke nur wenige Jahre auseinanderliegen. Gemeinsam ist ihnen nicht nur der hohe technische Anspruch, sondern die Verbindung von tänzerischen Elementen, Rückbezügen (nicht Rückfällen) auf traditionelle Formen und ausdrucksstarke Melodien. Wenn Migdal die Melodia. Adagio erklingen läßt, zeigt sie noch einmal die Singstimme ihrer Violine. Mit Fuga. Risoluto, non troppo vivo (zweiter Satz) mag man gar die Brücke zu Bach schlagen, doch geht Béla Bartók deutlich freier mit der Form um. Seine Sonate ist klar ein »Kind« des zwanzigsten Jahrhunderts.

Liv Migdal spürt den Komponisten bzw. ihren Werken sensibel nach. Wenn bei ihr die Funken zu stieben scheinen, dann geschieht das nicht, weil sie den effektvollen Auftritt sucht, sondern weil sie einem inneren Impuls folgt – es ist vor allem die Authentizität der Aufnahme, die bestechend ist.

22. November 2020, Wolfram Quellmalz

Liv Migdal (Violine) »Refuge«, Werke für Violine solo von Johann Sebastian Bach, Paul Ben-Haim und Béla Bartók, erschienen bei Genuin

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