Fünfter Musikalischer Online Salon
In den Mittelpunkt der fünften Ausgabe des Musikalischen Online Salons hatte Cellist Matthias Lorenz Paul-Heinz Dittrichs Werk »Cello-Einsatz« von 1975 gestellt. Dittrich greift darin das gleichnamige Gedicht von Paul Celan auf, jedoch nicht als Vertonung oder indem er Textzeilen musikalisch interpretiert – ein Fakt, der den Abend noch prägen sollte.

Nach einem ersten Hörbeispiel sprach zunächst der Literaturwissenschaftler Christoph Grube zur Lyrik Celans, zur Verfeinerung und Entwicklung seiner Sprache und zum Verständnis von »Musikalität«, einem Begriff, den der Dichter immer wieder in Bezug auf Lyrik und seine eigenen Werke verwendete und dem er mit dem Begriff der »grauen Sprache« eine weitere Deutungsebene hinzugefügt hatte.
Faßt man die Sprachbedeutung und die Verknüpfung von Sprache und Ereignissen weiter, lassen sich Erinnerungspunkte, Fakten oder Begebenheiten ins Verhältnis setzen, die ad hoc nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. Immerhin, erinnerte Christoph Grube, sei Corona nicht nur ein Auslöser für die Reihe der MOS gewesen, auch ein Gedicht aus Paul Celans erstem Band »Mohn und Gedächtnis« trage es im Titel. Die orphische Rhetorik von Celans »Corona« war zunächst ein Ausgangspunkt zum Verständnis oder zur Erklärung der Gedichte Paul Celans (oder zum Versuch, sich diesem zu nähern). Corona steht hier für Stillstand oder einen Haltepunkt, habe also die Bedeutung einer musikalischen Fermate.
Dichte und Verschlüsselung der Lyrik, die ihr eingepflanzten Bezüge und deren Bedeutung machte die Teilnehmer zunächst sprachlos, jedoch nicht passiv – offenbar hatte sich jeder offenbar an / in etwas »verhakt«, verbissen, denn die Diskussion wandelte sich mehr und mehr zu einem Arbeitstreffen. An der Gruppe waren mehrheitlich Komponisten und Musiker beteiligt, doch immer wieder gab es Reflexe zwischen Musik und Literatur oder zwischen Stimmung und Struktur.
Ausgehend von der an ihn gerichteten Frage, ob sich Motive oder Partikel aus Antonín Dvořáks Cellokonzert in »Cello-Einsatz« wiederfinden ließen (die Literaturwissenschaftlerin Gisela Dischner soll einmal den Zusammenhang einer von Celan gehörten Aufführung des Stückes und dem Entstehen des Gedichtes hergestellt haben), lautete Matthias Lorenz‘ Antwort zunächst »nein«.

Im weiteren vertieften sich die MOS-Teilnehmer aber mehr und mehr in die Arbeitsweise Paul-Heinz Dittrichs und die Möglichkeit, Texte oder Passagen in seinen Werken wiederzufinden oder als Grundlage darin zu entschlüsseln. Denn der Komponist hatte, wie Friedemann Schmidt-Mechau in einer Literaturrecherche live nachvollzog, 1970, also wenige Jahre vor »Cello-Einsatz«, damit begonnen, Texte zu analysieren, statistisch auszuwerten und Strukturen, Häufigkeiten von Vokalen und Konsonanten oder Silben, in musikalische Formen zu übersetzen.
Matthias Lorenz, der sich seit den neunziger Jahren mit dem Stück beschäftigt, findet in »Cello-Einsatz« eher eine atmosphärische Umsetzung des Textes von Celan, hält die musikalische Logik für vorherrschend, doch schließt das die Methode, Sprache als konstruktives Material und nicht semantisch zu verwenden, nicht aus.
Die Frage, ob das Gedicht (Christoph Grube hatte den Text kurzerhand noch einmal abgeschrieben und eingeblendet) nun »Material« oder einfach Auslöser gewesen ist, ließ sich nicht endgültig klären – solch offene Fragen verlangen eigentlich nach einer Fortsetzung!
Eine oder eine weitere gemeinsame Ebene, nach der Christoph Grube fragte, ließ sich zwischen Gedicht und Musik dennoch finden: so wie das wiederholte Lesen das Verständnis eines Textes verstärke, führte auch das wiederholte Spielen zu einem Zugewinn. Das Verständnis offenbare dann Details, die man vorher übersehen habe, gleichzeitig besteht aber die Gefahr, aus dem (Selbst)verständnis heraus manches zu übersehen. In jedem Fall setze sich der Prozeß fort. Insofern bedauerte es Matthias Lorenz ein wenig, »Cello-Einsatz« schon vor ein paar Jahren auf CD aufgenommen zu haben – heute würde er manche Passagen anders spielen (in einigen Jahren würde sich das aber natürlich erneut ändern).
Am Ende des offiziellen Teils, an den sich wie oft eine lange Nachbesprechung anschloß, erklang das Werk noch einmal vollständig. Anders als bei vielen der Stücke im MOS bisher, von denen einige stark ins Geräuschhafte gingen, ist Paul-Heinz Dittrichs Komposition von Emotionen geprägt. Erregung, Schmerz, Puls erfuhren eine Steigerung, an deren Ende sich zeigte: »Cello-Einsatz« verlangt den Einsatz des Cellisten, der diesmal nach dem Spiel ein wenig atemlos, aber keineswegs unglücklich war. Sein Resumée fiel dementsprechend besonders positiv aus, denn Matthias Lorenz fühlte sich nach dem MOS als großer Gewinner, dem der Abend viel gebracht habe.
Gleichzeitig ist er stolz, ein genuines online-Format gefunden zu haben, das er sicher fortsetzen wird, auch wenn die aktuelle Serie mit der sechsten Ausgabe in drei Wochen erst einmal beendet ist. Vielleicht, meinte er im Nachgespräch, könnte man perspektivisch, im nächsten Winter und als Nachlese, mit gleichem Stück am gleichen Punkt weitermachen.
22. April 2021, Wolfram Quellmalz
MOS #6 findet am 11. Mai 19:30 Uhr statt. Teilnehmen wird unter anderem die Komponistin Charlotte Seither, die über ihr Stück »krü« sprechen wird. Bereits eine Woche vorher, am 4. Mai, gibt es wieder ein Vorschauvideo. Alle Informationen sind zu finden auf: http://www.matlorenz.de/mos/