Der sechste, aber ganz bestimmt nicht der letzte

Musikalischer Online Salon hatte Komponistin Charlotte Seither zu Gast

Zum vorerst letzten Mal trafen sich am Dienstag wieder Gesprächspartner im Musikalischen Online Salon von Matthias Lorenz. Am 12. Januar hatte er die neue Reihe im Drei-Wochen-Turnus begonnen, am Ende galt sein Dank all jenen, die sich direkt beteiligt oder durch ihre Rückmeldung bestätigt hatten, daß sie das Format schätzten. In der Tat scheint es, als hätte der Cellist etwas Originäres geschaffen, denn anders als bei gestreamten Konzerten und Veranstaltungen, denen immer etwas von einer Krücke anhaftet, war der MOS durch die Barriere der Unmittelbarkeit nicht gebremst. Dafür trafen Menschen zusammen, die sich so in einem »normalen« Salon vielleicht nicht hätten sehen können. Die Besucher und Gäste der sechs Veranstaltungen kamen nicht nur aus ganz Deutschland, sondern schalteten sich aus Frankreich, Irland, der Schweiz oder Serbien zu. Spätestens mit dem in London lebenden Komponisten Gilberto Agostinho aus Brasilien war die Reihe international.

Wie immer wechselten manche der aktiven Gesprächspartner temporär zwischen Zoom und YouTube, Photo: NMB

Rückblickend kann man feststellen, daß jede Ausgabe des MOS anders war, und nicht (oder nur zu einem geringen Teil), weil sie unterschiedlich programmiert worden wären. Ursache war vielmehr die höchst unterschiedliche individuelle Kraft der Teilnehmer und vor allem ihrer Stücke. Neben Klassikern der zeitgenössischen Musik von Helmut Lachenmann oder Iannis Xenakis gab es zwei Uraufführungen und zwei Wiederbegegnungen von Stücken, die Matthias Lorenz schon in früheren Konzerten gespielt hat. Darüber hinaus kamen die Gäste mit Redebeitrag oder Vortrag aus unterschiedlichen Bereichen, es gab Berührungspunkte mit der Soziologie, der abstrakten Kunst oder den Sprachwissenschaften. Der Gastredner des vorletzten Salons, Christoph Grube, schaltete sich wieder als aktiver Teilnehmer zu.

Hauptakteurin war diesmal die Komponistin Charlotte Seither, deren Stück »krü« von 2015 im Mittelpunkt stand. Die Gespräche mit Komponisten wie Ian Wilson oder Friedemann Schmidt-Mechau hatten schon einige Male für erhellende, vermittelnde und bereichernde Momente gesorgt. Diesmal waren es die Ausführungen von Charlotte Seither, die zeigten, wie sehr ein Stück zunächst im Kopf entsteht, wie lang der Prozeß ist, bevor das Notieren überhaupt beginnen kann. Im Kern, initial wie im Ziel, geht es ihr um einen Klang, aber immer auch um die Frage, woher er kommt, wie er sich wandelt, wie er vergeht, verlischt, verfliegt oder ob er schlicht »weg« ist. Dieser Klang ist für die Komponistin immer mit den Begriffen des Stofflichen, einer Körperlichkeit und Haptik verbunden, erst wenn diese klar sind, kann sie mit der Notation anfangen. Doch die Transformation erscheint Charlotte Seither gleichzeitig unzureichend, das Notat ist für sie eine »völlig dumme, stumpfe, unfähige Zeichenmetapher«.

Wie daraus trotzdem ein Stück wird, daß hier ein Arbeitsprozeß folgt, wurde vor allem im Dialog mit Matthias Lorenz deutlich. Der Komponistenkollege René Wohlhauser befragte Charlotte Seither hingegen nach dem Umgang mit mikrotonalen Bezügen. Diese noch feinere Unterteilung als die gewohnte Tonalität in Ganz- und Halbtonschritten erfordert doch ein noch schärferes System der Einteilung. Doch physikalisch ausmessen und zu konkret festlegen möchte Charlotte Seither ihre Stücke nicht, was Matthias Lorenz aus der Spielerfahrung bestätigte. Es gebe, meinte er, eine »lustige Pseudogenauigkeit« in den Noten, die keine exakten Anweisungen seien, aber etwa mit Pfeilen wie »höher als das« immer einen relativen Bezug herstellen, und genau da kommt er als Akteur ins Spiel. In einem anderen Stück von Charlotte Seither gebe es zum Beispiel drei unterschiedliche Charaktere des (nach Metronom meßbar) gleichen Tempos, das trotzdem einmal fließend, einmal drängend und einmal nachlassend scheine.

Wenn die Neugier siegt: Auf Wunsch zeigte Matthias Lorenz die Noten des Stückes (rechter Abbildung, oben / Mitte), Photo: NMB

„Krü«, der Titel des Stückes, den die Komponistin aus dem französischen cru (roh) hergeleitet hat, steht folglich auch nicht für eine Dualität im Sinne von ungekocht = roh und gekocht = nicht roh. Matthias Lorenz meinte, es heiße schließlich »Grand cru« (»Großes Gewächs«), wenn es um einen guten Wein gehe, das Stück sei ebenso. Im Spiel bedeutet dies, zwischen nur zwei Tönen den Klangraum auszuforschen, für Hall, Widerhall zu sorgen, den Klang zu zerlegen. Das Werk erklang wie immer zum Abschluß des Abends noch einmal in ganzer Länge.

Zugabe: Auf »Krü« mit normaler Bogenhaltung folgte Bach mit dem Bogen in der Faust, Photo: NMB

Für »krü« muß der Spieler den Bogen übrigens nicht normal im »Obergriff« halten, sondern – ganz archaisch, wie ein Kind, das ohne Anleitung zu spielen beginnt – mit der Faust. Dieser Zugriff wirkt sich auf den Ton aus und hat die Entstehung des Werkes begleitet. Am Ende, im Nachgespräch spielte Matthias Lorenz einen Teil noch einmal mit normaler Bogenhaltung. Charlotte Seither fand dies zwar eleganter, doch das nicht Elegante schien ihr charmanter. Wobei nicht vergessen werden darf, daß die »normale« Spielweise natürlich vom Wissen und der Erfahrung der anderen Bogenhaltung beeinflußt war. Bis zu diesem Punkt kann man den MOS übrigens auf YouTube nachsehen. Einen kleinen Nachlauf gab es noch für all jene, die direkt dabei waren, denn zum Schluß spielte Matthias Lorenz noch den Beginn der Courante aus Bachs erster Cellosuite – mit dem Bogen in der Faust, in »krü«-Haltung.

12. Mai 2021, Wolfram Quellmalz

Die Musikalischen Online Salons können auf der Seite von Matthias Lorenz unter »Das aktuelle Projekt« nachgesehen werden. Als nächster Konzerttermin ist der 11. Juni, 19:30 Uhr, mit einem Auftritt des Neuen Klaviertrios Dresden im Dresdner Hygienemuseum geplant. Diese und andere Informationen finden Sie unter: http://www.matlorenz.de/

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