Olivier Latry erweist sich erneut als Ohrenöffner
Wenn man heute, mit den wenigen Jahren Erfahrung seit dem 8. September 2017, auf die bisherigen Konzerte mit der neuen Eule-Orgel im Dresdner Kulturpalast zurückblickt, kann man vor allem zufrieden, wenn nicht glücklich sein. Das Instrument hat sich als vielfältig und sinfonisch erwiesen, als klangschön. »Fertig« ist es nur formell, denn wie Olivier Latry in einem Interview vorab meinte, muß man eine neue Orgel erst einmal kennenlernen. Der Zeitfaktor, die Erfahrung, die Rezeptionsgeschichte wirkt sich also durchaus auf das Spiel aus. Oder ganz speziell auf das Spiel des Titularorganisten von Notre-Dame-de-Paris.
So kündigte Olivier Latry vorab an, daß er Thierry Escaichs Evocation II, das er an gleicher Stelle schon einmal (2019) gespielt hatte, nun ganz anders registrieren würde. Eine andere neue Erfahrung stand dem Publikum mit Olivier Messiaens »Alléluias sereins d’une âme qui désire le Ciel« bevor, denn dieses Stück hatte wiederum Thierry Escaich, er auch schon als Interpret in Dresden gewesen ist, einmal in seinem Programm gehabt (im Silvesterkonzert 2019).
Daß man Olivier Latry heute zu den besten Organisten zählt, liegt nicht allein an einer stupenden Instrumentenbeherrschung, an verfügbarer, abrufbarer Technik oder musikalischem Verständnis, es basiert ganz wesentlich auf seiner Ausdruckskraft. Und diese erschöpft sich keineswegs nur in einem aus Werkkenntnis gewachsenen Darstellungsvermögen, sondern vielmehr weiß er aus der Literatur eine Klangvorstellung abzuleiten und diese schließlich umzusetzen weiß. Dies schließt den Raum, in dem die jeweilige Orgel erklingt, also untrennbar mit ein.
Daß dem so ist, spürte man vor allem zu Beginn des Konzertes am Sonnabend, denn bei Johann Sebastian Bach (im Konzert erklangen Präludium und Fuge Es-Dur / BWV 552, Phantasie c-Moll / BWV 562 und Pièce d’orgue / BWV 572) hat der Zuhörer im Konzertsaal oft noch ein Mangel- oder Verlustgefühl, weil eben der sakrale Bezug der Umgebung fehlt. Olivier Latry gelang es, dieses einem Phantomschmerz nahekommende Gefühl vollkommen auszublenden.
Mit Franz Liszts »Consolations« wandte sich Olivier Latry dann seinem aktuellen Album zu, einer Aufnahme in der er sich ganz dem Œuvre Liszts zuwendet und sogleich neue Horizonte öffnet. Denn »Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen« erklang nicht in einer Originalversion, sondern in einer Fassung von Marcel Dupré, der wiederum die Klavier- und die Orgelfassung Liszts zugrunde liegt.
Olivier Latry schlug von Bach bis Escaich einen weiten Bogen, doch der gelang spannungsvoll. Daß der Organist dabei charmant durchs Programm führte, war reizend, doch nicht zwingend notwendig. Zumindest darauf, den Orgelprospekt farblich anzustrahlen, hätte er wohl verzichten können. Anfangs zwar dezent in metallischen Blautönen, sorgte das aufreizende Rot bei Escaich für Raunen im Publikum, dabei zeichnen das Werk und seine eigene Chromatik allein eine enorme Suggestionskraft aus. Man darf wohl gespannt sein, wann es (mit wem?) erneut an diesem Instrument erklingen wird.
Für diesmal entließ Olivier Latry nach der aufwühlenden Erfahrung mit diesem Werk sein Publikum mit einem mildernden Franz Liszt (»Liebestraum«).
26. September 2021, Wolfram Quellmalz
Nächstes Konzert mit Olivier Latry im Dresdner Kulturpalast: 10. November 2021, 20:00 Uhr (Werke von Johann Sebastian Bach, Charles-Marie Widor, Franz Liszt / Camille Saint-Saens, Louis Vierne) sowie Improvisationen von Olivier Latry selbst.
