Dmitri Jurowski beim Aufführungsabend der Sächsischen Staatskapelle
Ist es tatsächlich schon über drei Jahre her, daß Dmitri Jurowski zu Gast bei der Sächsischen Staatskapelle gewesen ist? Damals hatten Siegfried Matthus‘ »Der Wald«, das Zwischenspiel aus Dmitri Schostakowitschs »Lady Macbeth von Mzensk« sowie Franz Schrekers Kammersinfonie für 23 Soloinstrumente auf dem Programm gestanden. Auch am Montagabend gab es in der Semperoper Musik des Zwanzigsten Jahrhunderts, die man vielleicht der Moderne (Hartmann), der Avantgarde (Poulenc) zuordnen könnte. Könnte, nicht sollte oder müßte, denn hier stand kein »Bildungsprogramm« auf dem Plan (erst recht kein »Educationangebot«) – was Dmitri Jurowski bot, war schlicht erfahrbare Musik.
Und die begann diesmal mit Antonio Vivaldi. Nicht irgendeinem Werk, sondern einem Stück, das abseits des vertrauten Concerto-Repertoires liegt (weil sich keiner ran traut?): der Sinfonia für Streicher h-Moll (RV 169) mit dem Beinamen »Al Santo Sepolcro« (nach dem Nachbau des Heiligen Grabes benannt und eigentlich für die Liturgie der Karwoche bestimmt). Daß uns dieses »abseitige« Stück sonst verwahrt bleibt, ist spätestens seit gestern bedauerlich. Ohne Einschränkung erfreulich war die Gelassenheit der Gestik, die Ruhe dieses Adagio molto – wer ist heute noch so konsequent, langsame Tempi zu genießen? Verbarg sich der Autor in den Anfangsakkorden noch in einer geheimnisvollen, ja verwirrenden Schwebung, konnte man Vivaldi in den folgenden Aufwärtsfiguren der Streicher erahnen, wenn nicht erkennen. Mag sein, daß es sich an sich um eine Trauermusik (oder etwas Ähnliches) handelte – selten jagt einem Musik solche Schauer über den Rücken wie diese. Dmitri Jurowski gelang es, Spannung zu lösen (jene des Alltages, der alltäglichen Sorgen und die Lasten in Entspannung zu überführen), gleichzeitig neue zu schaffen, einen Fokus der Konzentration zu setzen – ungeheuerlich!
Die Musiker der Staatskapelle folgten dem Dirigat Jurowskis nicht nur (bereit)willig, sie fügten sich in ein übergeordnetes Ganzes. In Karl Amadeus Hartmanns Kammerkonzert für Klarinette, Streichquartett und Streichorchester ließen sie Segmente des Soloklarinettisten (Robert Oberaigner), des Fritz Busch Quartetts (Federico Kasik und Tibor Gyenge / Violine, Michael Horwath / Viola sowie Titus Maack / Violoncello) und des Orchesters ineinander spielen. Insgesamt mag das Werk übersichtlich scheinen, manchmal erwartbar (Erwartungen erfüllend) und vielleicht die Sinnlichkeit missen lassend, dem aufmerksamen Beobachter schenkte es Spannungsmomente und legte mitunter überraschende Bezüge oder Klangeindrücke offen. Robert Oberaigner spielte (im wahrsten Sinne des Wortes) seine superbe Beherrschung des Instruments scheinbar mühelos aus, ließ die Klarinette (dann doch) sinnlich singen, doch muß er nicht auf solche Betörung allein vertrauen, was sonst auch anstrengend würde. Der Tiroler betört vielmehr mit einer Phrasierung, die ihresgleichen sucht, die leiseste Ansätze unterscheiden kann und feinste Abstufungen findet – das Fritz Busch Quartett und die Kapelle gewährten ihm diese Möglichkeit aber auch, die Möglichkeit, ins feinste Piano abzusteigen und dennoch als Solist präsent zu bleiben. Dabei trat – natürlich! – die Klarinette hier und da keck hervor. (Welches Instrument ist wohl das keckste? Sergej Prokofjew [»Peter und der Wolf«] besetzte wohl ganz bewußt die Katze mit ihm!)
Während Hartmann im Vergleich mit Zeitgenossen und anderen Komponisten des Zwanzigsten Jahrhunderts immer noch unterrepräsentiert ist, kann man Francis Poulenc heute wohl längst zu den Klassikern zählen, was keineswegs Qualitätsunterschiede oder gar den Wert der Gattungsbeiträge widerspiegelt. Vielleicht ist Poulencs Rezeptionsgeschichte einfach eine glücklichere als bei anderen Komponisten? Man mag es ihm gönnen und ihn als gutes Beispiel sowie als »Zugpferd« für modernere Musik sehen. Seine Sinfonietta FP 141 ist längst etabliert und mit ihrem quirligen Gehabe ein munterer Gast der Konzertprogramme. Nun um Bläser erweitert, ließ die Staatskapelle ein munteres Impulsgeben und -reflektieren hören. Und jenen schieren Humor und die Ironie, die man so gern entdecken möchte. Poulencs Sätze scheinen oft nah dem Tanz und sind eben nicht wirklich tanzbar. Man darf ihn auch nicht zu ernst nehmen, dazu unterhält er zu gut, nähert sich manchmal der Filmmusik (oder war es umgekehrt und das Allegro con fuoco eine Vorlage für Hollywood?). Manchmal muß man eben loslassen – im Spielen wie im Hören – um diese Eleganz (Andante cantabile) zu erreichen und zu genießen. Mit dem Finale führte Poulenc seine Zuhörer doch noch einmal auf einen Ball, den man am Ende erfrischt verläßt – gerne wieder in diesem Hause!
5. Oktober 2021, Wolfram Quellmalz