Collegium 1704 »springt« zeitlich nach vorn

Auftakt der Musikbrücke Prag-Dresden, in der Annenkirche

Zum Programm des Prager Collegiums 1704 zählen typischerweise Werke von Komponisten wie Antonio Vivaldi, Georg Friedrich Händel oder Alessandro Stradella. Der »Patron« des Collegiums, Jan Dismas Zelenka, auf dessen erste Erwähnung in der Musikhistorie (Jahr der Aufführung seines Via Laureata / ZWV 245 in der St.-Nikolaus-Kirche Prag) sich das »1704« im Namen des Ensembles bezieht, wurde 1679 geboren. Im gleichen Jahr erblickte in Augsburg Johann Georg Mozart das Licht der Welt. Er wurde später Buchbinder. Gestern spielte das Collegium 1704 zwei Werke seines Enkels, Wolfgang Amadé Mozart, in der Dresdner Annenkirche.

Sich um zwei (oder mehr) Generationen nach vorn zu bewegen, ist für das Ensemble und seinen Leiter Václav Luks mittlerweile nichts Ungewöhnliches mehr. Im Rahmen ihrer Musikbrücke Prag-Dresden haben sie schon mehrfach Werke von Mozart musiziert, auch eine Serenade von Antonín Dvořák hat schon auf dem Programm gestanden. In diesem Jahr eröffnete das Collegium gar den Prager Frühling mit Bedřich Smetanas »Má vlast« (Mein Vaterland) – das Werk entstand noch einmal gute einhundert Jahre nach denen des Salzburger Genies.

Insofern ist Mozart »auf der Linie« des Collegiums, dennoch hätte die Zusammenstellung kaum kontrastreicher sein können: Auf die – trotz Tonart g-Moll – luftige, leichte und fröhliche Sinfonie Nr. 40 (KV 550) folgte das getragene und oft düstere Requiem (KV 626), um dessen Geschichte sich stets eine Aura des Mysteriösen rankt.

Wer gewohnt ist, diese Sinfonie – schließlich ist es eine der meistgespielten – von einem modernen Sinfonieorchester zu hören, dem widerfuhr hier (zumindest anfangs) unerhörtes. Denn Václav Luks‘ Orchester geht mit der Zeit, ob nun vor oder zurück, und spielt auf Instrumenten aus den Jahren der Entstehung des Werkes. Also auf anderen Oboen und Klarinetten als in einem Konzert mit Werken Jan Dismas Zelenkas, auch die Geigenbögen waren andere. Im Sinfonieorchester heute, so gewohnt dies sein mag, sind Instrumente und Bögen deutlich jünger, stammen aus den Nach-Mozart-Jahren. Es ist absolut interessant, sich einmal auf dieser »Höhe der Zeit« zu treffen. (Teodor Currentzis sprach im Zusammenhang mit Beethovens Sinfonien gar davon, deren romantisch geprägte Rezeption »aus dem Sarg der Tradition« befreien zu wollen.)

Wolfgang Amadé Mozarts wunderbares Werk schien in der Annenkirche vollkommen frei von jedem Zwang, jeder Bürde (auch frei von revolutionärem Historisieren). Erfrischend und belebend wie ein Glas Champagner sprudelte die Sinfonie, die sich schon in den Bässen vom gewohnt glatten Klang (ist der im Vergleich nicht langweilig?) stark unterschied, von den Bläsern ganz zu schweigen. Die Hörner (Jana Švadienková und Miroslav Rovenský) funkelten keck und leicht rauh von links, der markante Wechsel der Holzbläser mit herrlichen Seufzern der Klarinetten (Ernst Schlader und Markus Springer) war eine Freude. Die Hörner, die zunächst sanft eingestimmt hatten, ließen im Finale des ersten Satzes in ausgeprägten Stößen ihr Feuer schießen. Im zweiten Satz nahm die Leichtigkeit noch zu, die Flöte (wunderbar: Lucie Dušková) schien Wassertropfen in ein Windspiel perlen zu lassen.

Die Finalsätze in Mozarts letzten Sinfonien entwickeln oft ein gehöriges Drama, als hätte sie bereits (oder noch) Don Giovanni beflügelt. (Was nicht unstimmig ist, schließlich wurde die Gattung einst aus den Sinfonia [Vorspielen] der Opern und Oratorien abgeleitet.) Das ist in KV 550 nicht anders. Mit Václav Luks konnte die Sinfonie ebenso federn wie packende Begeisterung auslösen.

Nach der kurzen Umbaupause stand nicht nur ein vollkommen anderes Werk auf dem Programm, auch der Chor und die Solisten (Simona Šaturová / Sopran, Henriette Gödde / Alt, Eric Stoklossa / Tenor, Tobias Berndt / Baß) nahmen Aufstellung im Altarraum. Simona Šaturová kam zum ersten Mal in die Annenkirche, wird aber gleich im nächsten Konzert noch einmal mit Opernarien zu erleben sein. Ihr Sopran scheint für die Opern »gerüstet«, ist eher dramatisch, zudem stattete sie ihn mit viel Vibrato aus. Für ein Requiem schien das überreich, weniger hätte selbst dann genügt, wenn es dann viel schlanker gewesen wäre, wie sich bei Er Eric Stoklossa zeigte. Der in diesem Hause (auch mit anderen Ensembles) oft erlebte Gast entwickelte diesmal nicht die gewohnte Präsenz, was jedoch kein Problem war, da Václav Luks zu den (wenigen) Dirigenten gehört, die ein Orchester nach den Sängern ausrichten können. Henriette Gödde und Tobias Berndt füllten ihre Rollen beeindruckend aus, verfügten gleichermaßen über körperreichen Klang, wie sie in der Lage waren, in Schlichtheit und Mühelosigkeit stimmlich »herabzusinken« oder sich im Quartett mit den anderen zu verbinden.

Ausgeprägte Soli gibt es im Requiem sowieso kaum, vielmehr ist es ein Chorwerk – wie herrlich, diesen Chor, dieses Collegium Vocale 1704 wieder zu erleben! Es schließ in seinen Reihen manche Sänger ein, die sonst selbst Solisten sind, hier aber zu einem lebendigen Organismus verschmelzen. Den wogenden Klang konnte man förmlich verfolgen, wie er von links (Bässe) nach recht (Soprane) floß. Schon wie die Altstimmen im Kyrie einsetzten, war ein Gänsehausmoment!

Václav Luks animierte den Chor zu schlichtesten Tönen und reichem Funkeln, ließ ihn das Solistenquartett umschließen und stattete das Werk noch mit dem Feuer des Orchesters, vor allem der Blechbläser, aus. Das war manchmal schon ein wenig viel Leuchtkraft und Kontrast. Gerade am Beginn des Offertoriums fühlte man sich durchaus ziemlich beansprucht.

Doch das Werk bricht, aller Düsternis und Mysteriösität zum Trotz, schließlich ans Licht durch, wie sich auch effektvoll in den letzten beiden Teilen (Lux aeterna und Cum sanctis tuis) zeigt. Mozarts Requiem kann unvermindert Zuversicht spenden – für viele sind solche Erlebnisse nicht weniger als ein Halt, eine Stabilisierung und Sicherheit. Die schwebende Ruhe, bevor der Applaus losbrach, gehört beim Collegium 1704 seit langem dazu.

13. Oktober 2021, Wolfram Quellmalz

Im nächsten Konzert am 10. November stehen sich zwei Mozarts gegenüber: der »böhmische«, Josef Mysliveček (Opernarien) sowie der »Salzburger«, Wolfgang Amadé (Sinfonie Nr. 38).Weitere Informationen unter: collegium1704.com

Eben erschienen: Václav Luks (Dirigent), Simona Šaturová (Sopran), Collegium 1704 & Collegium Vocale 1704: Luigi Cherubini Requiem c-Moll, Karol Kurpiński: Te Deum, herausgegeben vom National Institute Frederick Chopin. Unsere Rezension erscheint voraussichtlich in Heft 42.

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