Martin Lehmann wird der 29. Kreuzkantor

Es gibt Ämter, die sind so besonders, daß sie nur alle paar Jahre oder Jahrzehnte neu besetzt werden. Selbst heute, wenn in der Regel mit dem Eintritt des Rentenalters das Beschäftigungsverhältnis endet, ist das noch so. Gottfried August Homilius war dreißig Jahre lang Kreuzkantor in Dresden, Ernst Julius Otto siebenundvierzig, Rudolf Mauersberger, einer der wohl prägendsten Kreuzkantoren, stellte mit einundsechzig Jahren quasi einen Rekord auf – sein Kantorat endete mit dem Tod Mauersbergers. Der legendäre Leiter des Dresdner Kreuzchores erlebte die NS-Zeit ebenso wie Jahre der DDR.
Eine lange Amtszeit für den Kreuzkantor (wie für jeden Leiter eines Knabenchores) ist dabei auch ein Schlüssel, einen Chor zu erhalten und aufzubauen. Denn anders als in Berufsensembles, die sich stetig, aber nur langsam und in einzelnen Positionen, verändern, hat ein Knabenchor in jedem Schuljahr Zu- und Abgänge zu verzeichnen, dazu kommen die Veränderungen in der Zeit des Stimmbruchs. Die Aufgabe des Kreuzkantors ist somit ebenso künstlerisch wert- wie pädagogisch anspruchsvoll.
»Herzlich willkommen, wir freuen uns auf die nächsten 25 Jahre« lautete die Begrüßung von Oberbürgermeister Dirk Hilbert, als heute mit der Vertragsunterschrift im Dresdner Rathaus ein fast zweijähriger Auswahlprozeß abgeschlossen wurde. Martin Lehmann, einst selbst Kruzianer und aktuell Leiter des Windsbacher Knabenchores, ist damit nicht mehr länger »designierter«, sondern nun tatsächlich der nächste Kreuzkantor. Er tritt sein Amt am 1. September an, wenn der aktuelle Kreuzkantor, Roderich Kreile, nach dann über 25 Jahren in den Ruhestand verabschiedet wird.
Bis zum heutigen Tag war es ein langer Weg: siebenunddreißig Bewerbungen waren auf die Ausschreibung eingegangen, mit sieben Kandidaten wurden Gespräche geführt, vier wurden schließlich eingeladen. In den Probewochen mußten die schließlich drei angetretenen Kandidaten innerhalb einer Woche eine öffentliche Vesper vorbereiten sowie einen Teil des Deutschen Requiems einstudieren – alles unter den erschwerten Bedingungen der Pandemie. Martin Lehmann löste seine Aufgabe mit Bravour. Nicht nur die Qualität sprach für ihn, auch die Zusammenarbeit mit dem Kreuzchor sowie mit der Dresdner Philharmonie, welche als wichtiger musikalischer Partner in den Auswahlprozeß eingebunden war und an Aufführungen wie jenen des Deutschen Requiems stets beteiligt ist. Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch faßte zusammen, man habe einen Kirchenmusiker und Pädagogen gesucht und jemanden gefunden, der zudem Netzwerker und Kulturmanager sei. Ihr selbst, der Findungs- und der Auswahlkommission, sei aber auch bewußt gewesen, daß die Neubesetzung nach fünfundzwanzig Jahren nicht nur eine Zäsur sei, das ganze Umfeld habe sich gewandelt. Die Anforderungen seien heute andere als für Roderich Kreile 1997 oder gar Rudolf Mauersberger 1930.
Daß Martin Lehmann selbst einmal Kruzianer war, spricht durchaus für ihn, war aber weder eine Vorgabe noch ist es zwingend ein Vorteil – das Beispiel von Thomaskantor Andreas Reize zeigt dies in unmittelbarer regionaler Umgebung. Dennoch bürgt es für eine Ausrichtung und Qualität, die bewußt auf eine Erhaltung der Tradition setzt, was gerade in der aktuellen Situation von besonderer Bedeutung ist. Und: Martin Lehmanns derzeitiger Chor, der Windsbacher Knabenchor, präsentiert sich momentan – trotz Pandemie! – in einem hervorragenden Zustand.
Für Martin Lehmann ist das Kreuzkantorat eine »Herzensangelegenheit und Berufung«, für die er »Respekt und Demut« empfinde. Einen programmatischen Ausblick wollte der 29. Kreuzkantor aber noch nicht geben, die Situation ließe dies nicht zu, in einem halben Jahr könne er mehr zu Konzepten und Programmen sagen. Bis dahin hat Martin Lehmann einen Einarbeitungsvertrag, um parallel zu seinen Windsbacher Pflichten bereits in Dresden für das kommende Schuljahr wirksam werden zu können. In der Aufgabe, singfreudige, qualitativ herausragende Jungen (und deren Eltern) für einen Leistungschor zu begeistern, der sich fast ausschließlich der Musica sacra widmet, sieht er eine wesentliche Herausforderung. Eine andere ortet Martin Lehmann darin, im 21. Jahrhundert den scheinbaren Widerspruch der Tradition eines Chores mit einem überwiegend geistlichen Repertoire aufzulösen und zu zeigen, was er darüber hinaus bedeuten und bewirken kann. Es gelte also nicht nur, eine Tradition zu bewahren, sondern auch, Entwicklungen anzustoßen.
6. Januar 2022, Wolfram Quellmalz
Die offizielle Amtseinführung von Martin Lehmann als Kreuzkantor ist für die erste Kreuzchorvesper im neuen Schuljahr am 24. September geplant.