Nachgeholt und fortgeführt

Kantatenreihe der Musikhochschule im Konzertsaal

Eigentlich gehören die Aufführungen der Bach-Kantaten auf einen Dienstagabend und in den barocken Festsaal des Marcolini-Palais, aber der, mitten im Krankenhaus Friedrichstadt gelegen, ist für Konzerte derzeit gar nicht zugänglich. Vorübergehend »gastiert« die Reihe also im eigenen Hause, im Konzertsaal der Musikhochschule, was trotzdem nicht vor Ungemach schützt – im November hatte ein fertig und perfekt vorbereiteter Kantatenabend kurzfristig wegen eines Covid-Falls im Ensemble abgesagt werden müssen. Nun aber konnte er nachgeholt werden – wegen der Verkettung der Verlegungen und Absagen ausnahmsweise an einem Sonntagabend.

Eigentlich scheint sich die Zeile »… und der Zukunft zugewandt« im Zusammenhang mit sakralen Kantaten Johann Sebastian Bachs zu verbieten, und doch trifft sie – inhaltlich! – den Kern der Sache. Denn wie fast immer, wenn an der Musikhochschule etwas stattfindet, ist die Aufführung ein Teil dessen, was junge Menschen in ihrer Ausbildung lernen und realisieren. Gerade die Dirigierklasse von Hans-Christoph Rademann schöpft und fördert unermüdlich Nachwuchs, viele der jungen Dirigentinnen und Dirigenten übernehmen – teilweise noch während des Studiums – Aufgaben, mit denen sie in Dresden und weit darüber hinaus wirken. Justus Merkel und Friedrich Sacher gehörten in den letzten Jahren dazu, auch Katharina Dickopf und Tim Fluch, beide gerade mit einem Deutschlandstipendium ausgezeichnet, waren in den Kantatenaufführungen zu erleben.

Somit ist es nicht verwunderlich, wenn die Schar derer, die in den Konzertsaal pilgern, stets groß ist. Am Sonntag übernahmen Hannes Rauschelbach (»Jesu, der du meine Seele«, BWV 78) und Richard Stier (»Nach dir, Herr, verlanget mich«, BWV 150) das Dirigat der Kantaten. Mittlerweile paßten die ursprünglich einem Sonntag nach Trinitatis zugeordneten Werke auch wieder in den Kalender. Für »Jesu, der du meine Seele« zumindest sind der Anlaß und der Bezug auf die Passionsgeschichte gesichert. Hannes Rauschelbach konzentrierte sich auf die Binnenspannung des Werkes wie den einerseits emphatischen Eingangschor, dem eine stetig absteigende instrumentale Begleitung (Todesthema) gegenübersteht. Andras Adamik, einer von drei Solisten, deutete vor seiner Arie das Rezitativ »Ach! Ich bin ein Kind der Sünden« emotional aus.

Noch eindrucksvoller geriet »Nach dir, Herr, verlanget mich«. Das Werk, vermutlich um die zwanzig Jahre vor BWV 78 in Arnstadt entstanden und zu den frühen Kantaten Bachs gezählt, ist schon in der Anlage ungewöhnlich. Es beginnt mit einer kurzen Sinfonie (kleiner als die Einleitung des Chores in BWV 78), kommt ganz ohne Rezitativ und mit nur einer Arie und einem Terzetto aus, dem aber gleich vier Chorstrophen gegenüberstehen. Gerade diese gestaltete Richard Stier mit dem achtköpfigen Sängerensemble beeindruckend spannungsvoll und in bester Verständlichkeit. Über dem Text und dessen Aussage, sozusagen als »Basis«, wurden immer wieder affektive Verzierungen und Gestaltungselemente sichtbar, wie das im vitalen Tremolo bebende Violoncello (Rafael Knappe), welches die im Wind zitternden Zedern (bzw. die erzitternde Seele) suggerierte – in der Besetzung steht das Instrument schlicht als Teil des Basso continuo.

Die außerordentliche Wirkung ließ sich noch steigern, denn am Schluß erklang anstelle des in Kantaten üblichen, schlichten Chorals noch einmal ein artifiziell ausgeformter Chor, auch dieser spannungsvoll auf einen Gipfel führend.

7. März 2022, Wolfram Quellmalz

Für die Zukunft ist eine Rückkehr der Kantatenreihe ins Marcolini-Palais vorgesehen. Über aktuelle Termine und Aufführungsorte gibt die Seite der Musikhochschule http://www.hfmdd.de Auskunft.

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