Emotionaler Abend

Nein, langweilig wird es wohl nie – sich in jeder Passionszeit die Passionsgeschichte nach einem der vier Evangelisten oder in einer freien Form erzählen zu lassen, das gehört einfach dazu. Selbst wer nicht durch Glauben oder Religion gebunden ist, läßt sich von der spannungsgeladenen Erzählung einfangen, zumal, wenn sie so vollendet und emotional ausgedeutet präsentiert wird wie gestern in der Dresdner Annenkirche.

Am Mittwoch vor den Kartagen kehrte das Prager Collegium 1704 dorthin zurück, es war leider schon das letzte Konzert in dieser Saison. Aber der Ausblick läßt hoffen – unten mehr dazu.

Ohne Sitzplatzbeschränkungen konnten endlich wieder viele Besucher kommen, saßen dicht, und ließen sich gefangennehmen. Schon das erste Wort der Johannespassion (BWV 245) von Johann Sebastian Bach, »Herr«, die zu Beginn vom Chor gesungene Anrufung, war so unmittelbar packend, konnte zu Tränen rühren – wer war davon nicht tief im Inneren angesprochen? Das Sängerensemble zeigte sich erneut von seiner farbenfrohen, wandlungsfähigen Seite, überzeugte im Choral, in den Turba-Passagen oder den festlichen Chorstücken. Auch die kleineren Soli waren wie immer mit Choristen besetzt.

Unter den Solisten hatte es kurzfristig noch eine Umbesetzung gegeben – Julia Böhme (Alt) war für die krankheitsbedingt verhinderte Henriette Gödde eingesprungen. Als Evangelist war Sebastian Kohlhepp zu erleben, der gerade erst, nicht weit entfernt in der Semperoper, im Palmsonntagskonzert der Sächsischen Staatskapelle mitgewirkt hatte [NMB berichteten: https://neuemusikalischeblaetter.com/2022/04/14/in-jeder-hinsicht-extrem/]. Jetzt übernahm er jene Rolle, die Tobias Hunger sonst oft gepflegt hatte. Für diesmal trat Hunger als Arientenor auf, weiterhin Sophie Junker (Sopran), Christian Immler (Bariton / Pilatus) und Matthias Winckhler(Baß / Jesus).

Für die emotionale Ausdeutung und -leuchtung war Václav Luks verantwortlich, der die Soli, Chöre und unterschiedlichen Orchesterteile spannungsvoll band, ihnen einen Verlauf gab. So wie in der Pilatus-Passage, in welcher der befragte Jesus mit den Worten »Mein Reich ist nicht von dieser Welt« antwortet – wie sich hier eine Steigerung über den Dialog ergab und in den Choral mündete, war ein atemberaubender Höhepunkt!

Für wachsende Spannung ist eine Aufführung ohne Brüche allein nicht ausreichend. Auch ein stetig wachsendes Crescendo genügt nicht. Die beiden Collegia verfügen über eine innere Verbindung, die alle zu umfassen scheint und sie Facetten ausgestalten läßt, in kleinen Rückungen für dieses Spannungswachstum sorgen. Zudem gelang Václav Luks eine agogisch meisterliche Aufführung – gerade in der punktuellen Verlangsamung oder kurzen Ruhepausen auch mitten im Vers (als Jesus keine Antwort gibt) fand er feine, wohldosierte Gestaltungsmittel. Vom Chor vorgebereitete Steigerungen wiederum erhöhten die Wirkung nachfolgender Arien, die Choräle entspannten oft die Situation oder Szene, waren Ausdruck für die Zuversicht Jesus‘.

Unbedingt beeindruckend war der Evangelist von Sebastian Kohlhepp, der nicht nur melodisch, fast lyrisch überzeugte, sondern die Rolle ungewohnt emotional darstellte und besonders in der Höhe leuchtete. Verblüffend, wie glaubhaft Sebastian Kohlhepp dies erreichte – nichts schien übertrieben oder opernhaft. Dramatisch szenisch ausgezirkelt war Matthias Winckhlers Arie »Eilt, ihr angefochtenen Seelen«. Bei den Soli fielen nicht allein Klangfarbe und Gestaltung auf (Christian Immler mit »runder« Mitte und Tiefe und einer tenoralen Höhe, kräftig und bestimmend Matthias Winckhler), auch die Orchesteranteile und -begleitungen blieben variabel und in der Stimmung vielfältig. So waren nicht allein die Oboen und Flöten (im wahrsten Sinne des Wortes) tonangebend, oft gab es einen betörenden Mischklang oder einen wandlungsfähigen Basso continuo (oder beides). Für solch großartige Momente sorgte vor allem die Kombination von Violoncello, Viola da Gamba und Orgel, auch das Gegenüber der Violinen und des hell durchdringenden Cembalos waren einmalig. Darüber hinaus gab es noch inmitten einer Evangelistenerzählung instrumentale Umschwünge, etwa als es hieß »Von dem an trachtete Pilatus, wie er ihn losließe«, was mit einem hellen Lichtmoment und einem prägnant hervortretenden Cembalo verbunden war.

Doch diese Johannespassion war kein Auf und Ab einer Geschichte, sie war eine fast ununterbrochen emotional ansprechende Darbietung mit vielen Höhepunkten. Manche ließen einem Schauer über den Rücken rieseln, wie die »Kreuziget«-Rufe des Chores oder – kurz vor dem Ende – die betörende Baßarie »Mein teurer Heiland«, in welche der Choral des Chores gemischt ist.

14. April 2022, Wolfram Quellmalz

Nun müssen wir – in Dresden – bis Oktober auf die Musikbrücke Prag-Dresden warten, am 12. beginnt die neue Spielzeit. Alle Programme der diesmal sechs Konzerte (leider ohne den traditionellen Neujahrstermin!!!) sind bereits auf der Internetseite des Collegiums nachzulesen. Am 25. April beginnt der Kartenvorverkauf.

Wer nicht so lange warten will, der kann die Prager zuvor beim Bachfest Leipzig erleben (9. Juni) oder am 11. September beim Musikfest Erzgebirge. Weitere Informationen und Termine hier:

collegium1704.com

www.bachfestleipzig.de

musikfesterzgebirge.de

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