»Er vergaß der Bratsche«

Neues Bachisches Collegium Musicum mit Reinhard Goebel

Einen Experten wie Reinhard Goebel zu gewinnen, ist immer ein Gewinn, meinen die einen, die anderen halten ihn für einen Querkopf oder Enfant terrible der Alte-Musik-Szene. Oder für ein Kuriosum. Gebraucht hätten ihn die neun Musiker gestern im Mendelssohn-Saal des Gewandhauses zu Leipzig wohl nicht zwingend, zumindest nicht als Dirigenten. Das versuchte Reinhard Goebel auch gar nicht erst, er saß vielmehr inmitten der Gruppe, seitlich des Cembalos, mit dessen Spielerin (Bernadette Mézsáros) er immer wieder einmal Notenblicke tauschte. Ob Goebel in der Vorbereitung aktiver oder Berater war, läßt sich schwer sagen, in der Aufführung war er für das Publikum eher Episodenerzähler und ein amüsanter Flaneur in der Musikgeschichte. Das war vor allem heiter, indes nicht immer einleuchtend – für Jan Dismas Zelenka, der »mit fremder Tinte auf fremdem Papier beim Licht fremder Kerzen« komponierte (gemeint ist Zelenkas Zeit am Sächsischen Hof) hatte Goebel sowohl reichlich spitze Kommentare übrig wie er höchste Wertschätzung für dessen Musik offenbarte.

Musik – darum ging es schließlich doch. Und die gelang, trotz mehrfacher kurzfristiger Umbesetzung, ausgezeichnet, was vor allem, aber nicht nur den ersten Stimmen (Elisabeth Dingstad / Violine, Peter Michael Borck / Viola und Amanda Tauriņa / Oboe) zu danken war. Auch insgesamt verfügte das Ensemble über eine gute Bindung und den sicheren Rückhalt seines Basso continuo. Georg Philipp Telemanns Septett e-Moll (TWV 50:4) überraschte dabei mit einem Klang, welcher im Gravement der Matthäuspassion folgte, im Allabreve entwickelten die Musiker zunehmend Verve, bevor Violinen und Oboen in der Air die Duette wunderbar dialogisch herausarbeiteten.

Johann Friedrich Faschs Sonata à quattro d-Moll verzichtete dann auf die Bläser (mit Ausnahme des superben Fagotts im Baß / Thomas Reinhardt). Reinhard Goebel wollte auf die Viola sicher nicht verzichten, hatte aber mit einem zu frühen Einsatz ihr Stimmen unterbrochen, was Goebel zum selbstironischen Satz »Er vergaß der Bratsche (das gibt’s nicht nur am Flughafen)« verleitete – solcherlei Lockerheit tat der Stimmung (in keinem Sinn) einen Abbruch und bewies Uneitelkeit, die forsche Gangart der schnellen Sätze allerdings war zu hastig. Während sich die beiden Largo gesanglich verströmten, schienen die sich kreuzenden Stimmen in den kurzen Allegro-Sätzen überstürzt.

Bei der Sonata à quattro B-Dur für zwei Oboen, obligates Fagott und Basso Continuo von Johann David Heinichen verhielt es sich zum Glück nicht so (auch wenn Goebel es grundsätzlich wohl forscher mag). Hier bewiesen die Spieler – nun mit Max Vogler an der ersten Oboe – Gesanglichkeit bereits im Affettuoso, während der zweite Satz (Allegro) der Einleitung einer Bach-Kantate hätte entstammen können. Warum auch nicht? Das Largo jedenfalls näherte sich einem Choral (Wer nur den lieben Gott läßt walten).

Dies sei »Musik von Pastorensöhnen«, resümierte Reinhard Goebel vor dem letzten Stück, um hernach darüber zu sinnieren, daß dies nichts schlechtes bedeute […] Jan Dismas Zelenkas Ouverture F-Dur (Z 188) führte im Stil einer Suite durch die Sätze, wobei sich das Neue Bachische Collegium Musicum immer stärker verzahnte. Ob es ein nachhaltiger Beitrag zur Zelenka-Renaissance war?

Vielleicht. Als Zugabe und »zarten Marsch« (nach Hause – Reinhard Goebel) gab es noch einmal Telemanns Tendrement.

21. April 2022, Wolfram Quellmalz

Reinhard Goebel ist in dieser Spielzeit bei gleich vier Konzerten des Neuen Bachischen Collegiums zu Gast. Das nächste Mal am 14. Juni. Dann stehen mit Anna Prohaska (Sopran) als Gast Werke von Johann Ludwig Bach, Jean-Féry Rebel, Antonio Vivaldi, Georg Philipp Telemann, Johann Christoph Schmidt und Johann Sebastian Bach auf dem Programm (17:00 Uhr, Mendelssohn-Saal des Gewandhauses zu Leipzig). Mehr unter: http://www.gewandhausorchester.de

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