Vorerst letzter Musikalischer Online Salon
»Cantica« (Lateinisch für »Lieder«) heißt das Stück, das Matthias Lorenz am Dienstag im vorerst letzten Musikalischen Online Salon vorgestellt hat – es war der sechste MOS (fünf reguläre und ein Salon extra zur Ukraine) in dieser Spielzeit, dabei erklang die dritte Uraufführung. Wie immer spielte Matthias Lorenz anfangs einen Ausschnitt aus dem Werk, im Anschluß an das Gespräch erklang »Cantica« noch einmal ganz.
Die Komposition ist stark beeinflußt von ihrer technischen Verarbeitung und entsteht überhaupt erst, wenn auf dem Cello gespielten Passagen Aufnahmen von Sequenzen (»Loops«) hinzugefügt werden. Die Mischung dieser Klanganteile, die Positionierung von Mikrophonen (die nur das Cello oder auch den Klang aus den Lautsprechern aufnehmen) sind wesentlich dafür, das musikalische Material sozusagen »zuzuschneiden«. Dieser Prozeß ist keineswegs beliebig, so erzählte Matthias Lorenz, daß er es als »schmalen Grad« empfand, die richtige Balance zu suchen. Der Probenprozeß blieb somit nicht auf die Aufnahme von Videos und deren Kontrolle beschränkt – die Suche nach der Balance blieb bestimmend, weil es mehrfach »Kipppunkte« bei der Erschaffung (oder Erschließung) des Stückes gibt. Letztlich können die Ebenen von musikalischem bzw. klanglichem Vordergrund und Hintergrund verschwimmen, auffächern oder gar wechseln – der Hintergrund wird zum Vordergrund.
»Cantica« ist etwa 20 bis 25 Minuten lang, sein »Weg« ist entsprechend der Anlage keiner, der einen vordergründigen Verlauf darstellt und ändert oder gar motivisches Material wandelt, vielmehr scheint das Stück am Ort zu verharren, stehend oder schwebend, und seine Form stetig, langsam, aber merklich zu ändern. Die Komponistin bezog sich im Gespräch mehrfach auf die Klanglandschaften (Soundscapes), welche sie kreiert. Vergleicht man weiter auseinanderliegende Passagen (was im Video noch leichter nachzuvollziehen ist), offenbart sich auch hier eine Art Drift, also ein extrem langsamer, aber dennoch stetiger, also ununterbrochener, und kraftvoller Prozeß. (»Drift« heißt auch ein Stück von Benjamin Schweitzer, das Matthias Lorenz 2017 uraufgeführt hat.) Immer wieder tauchen darin Impulse auf. Die Spannweite zwischen Anfang und Ende ist schließlich enorm.
Mit der aktuellen Ausgabe fand der MOS einen vorläufigen Abschluß. Ob das digitale Format eine Fortsetzung finden wird, ist derzeit offen. Derzeit sind die wieder möglichen analogen Angebote natürlich stärker nachgefragt und attraktiver. Matthias Lorenz ist in den nächsten Tagen solistisch in Prag (12. Mai) zu erleben sowie am 13. Juni mit seinem Neuen Klaviertrio Dresden im Deutschen Hygienemuseum.
4. Mai 2022, Wolfram Quellmalz
Der Musikalische Online Salon kann auf YouTube nachgesehen werden. Alles zum MOS und zu weiteren Projekten von Matthias Lorenz finden Sie unter: