Bebendes Licht

Andris Nelsons und die Wiener Philharmoniker bei den Dresdner Musikfestspielen

Wenn sich in den Reigen der internationalen Gastorchester im Dresdner Kulturpalast während der Dresdner Musikfestspiele die Wiener Philharmoniker einreihen, darf man schon etwas Besonderes erwarten, schließlich wird das Orchester seit langem und beständig zu den besten drei in der Welt gezählt. Daß dies nicht nur ein Markenabzeichen und Verkaufsargument ist, sondern ein Gütesiegel, das auf die Extraklasse der Extraklasse hinweist, bewiesen die Wiener unter der Leitung von Andris Nelsons am Sonnabendabend – diese Präzision, diese Homogenität waren weniger verblüffend denn schlicht atemberaubend! Schon im Ansatz der ersten Töne kann dieses Orchester eine Atmosphäre schaffen, die alles an Farbe, Kontrast, ja – Aura – offenbart.

Insofern war es gerade interessant, ein Programm ohne spektakuläre »Nummer« zu erleben – keine große neunte Sinfonie, kein Supertalent oder berühmter Solist, nur das Orchester. Damit war es nicht allein Botschafter in eigener Sache, sondern für die Musikvielfalt und den Kulturbetrieb, für Festspiele, die solche Höhepunkte bergen.

Das Programm schien zunächst unspektakulär – Schostakowitsch (doch eine neunte!) und Dvořák. Bei letzterem könnte man annehmen, er habe nur zwei Sinfonien geschrieben, die achte und die neunte. Es gibt aber auch die anderen sieben davor, stiefmütterlich behandelt. Die sechste krönte einen Abend, der mit Sofia Gubaidulins Märchenpoem indes wenig berauschend begann. Die zu »Die kleine Kreide« (Miloš Mazourek) entstandene Musik ist illustrativ, ohne das Wissen um die Geschichte jedoch wenig beeindruckend. Wer sich nicht vorab digital eingelesen hatte, konnte mit den zuweilen recht kühlen Bildern wenig anfangen – als rein musikalisches Poem zündete das Stück trotz mustergültiger Wiedergabe nicht.

Da war Dmitri Schostakowitschs neunte Sinfonie deutlich entzündlicher. Andris Nelsons nahm sie eher emotional und kraftvoll, als ihre Widerhaken wirken zu lassen. Hier und da piekst es dennoch – verblüffend, wie nicht nur Holzbläser im Diskant, sondern auch Violinen in erbarmungsloser Höchstlage noch Eleganz wahren können. Verweilen, bedenken sind Nelsons Sache weniger – er setzte auf die mitreißende Wirkung von Schostakowitsch, was ihn nicht hindert, bittersüße und wunderfeine Soli blinken zu lassen, wie die in Einsamkeit rufende Flöte.

Manchmal muß man gar nicht auf den Berggipfeln warten, auf den sorgsam herausgearbeiteten Effekt – allein mit dem Anfang können die Wiener geradezu berauschen! Das gilt für Schostakowitschs Allegro nicht minder wie für Antonín Dvořáks Allegro non tanto. Ja, man kann durchaus Unterschiede in der Wertigkeit seiner Sinfonien ausmachen, mag sein, die Bevorzugung der letzten beiden kommt nicht von ungefähr. Doch wer sich der sechsten so präzise, lust- und liebevoll widmet, der reißt das Publikum von den Sitzen! Auf das betörende Tutti des Beginns folgen schwelgerische, melodische Bögen – Gesang pur, möchte man meinen, groß, weit, überwältigend, ohne pathetisch zu klingen. Im Adagio gaukelte die Klarinette, noch übertroffen jedoch vom Charme der »Fagöttin« (Sophie Dervaux). Das Scherzo. Furiant überraschte nicht nur, weil es auf dem Programmzettel fehlte, sondern vor allem, weil es nach dem weiten Atem des zweiten Satzes so lächelnd, erfrischend durch den Saal blies. Die riesige Orchesterbesetzung hinderte Andris Nelsons nicht, das Finale. Allegro con spirito danach feingliedrig und in allen Fasern vibrierend funkeln zu lassen.

War das nun der Höhepunkt der Musikfestspiele? Auf jeden Fall eines der Konzerte, die das »endlich wieder« köstlich ausmalten. Also ein Neuanfang? Vielleicht – mit einem Hauch Neujahrskonzert und dem Walzer »Wo die Zitronen blühen« von Johann Strauss (Sohn) sagte das Orchester vorläufig »Servus«.

5. Juni 2022, Wolfram Quellmalz

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