András Schiff und Angela Hewitt beim Bachfest Leipzig
Bei einem Bachfest dürfen wesentliche Werke aus dem Œuvre des Thomaskantors natürlich nicht fehlen. An zwei Abenden spielten zwei Träger der Bach-Medaille die Präludien und Fugen, Teile 1 (BWV 846 bis 869) und 2 (BWV 870 bis 893), aus dem Wohltemperierten Klavier. Die eine, Angela Hewitt, hatte den Preis 2020 erhalten, Sir András Schiff bekam ihn am gestrigen Abend im Großen Saal des Gewandhauses zu Leipzig verliehen. Immerhin: Die Medaille, deren Träger von einer fachlich kompetenten Jury, zu welcher der Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons, der Rektor der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig Prof. Gerald Fauth, der (aktuelle) Thomaskantor Andreas Reize sowie der Präsident und der Direktor des Bach-Archivs Leipzig, Prof. Dr. Ton Koopman und Prof. Dr. Dr. h. c. Peter Wollny zählen, gekürt wird, übergibt gleichermaßen die Stadt Leipzig – Oberbürgermeister Burghard Jung eröffnete gestern sodann auch die Preisverleihung nach dem Konzert.
Zuvor hatte der noch nicht geehrte, wiewohl »designierte« Preisträger an seinem Flügel platzgenommen, ein edles Modell der neuen 280-VC-Reihe aus dem Hause Bösendorfer in betörender Wurzelholzoptik – keine 24 Stunden später saß Angela Hewitt heute für den nachfolgenden zweiten Teil an einem schwarz glänzenden Riesenflügel (drei Meter acht lang!) aus dem Hause Fazioli – in beiden Fällen hatten die Pianisten wohl nicht nur das bevorzugte, sondern das eigene Modell mitgebracht.
Bei so viel Gemeinsamkeit und Zusammengehörigkeit fällt alles ins Gewicht – oder eben nicht. Schließlich ist es die Musik, die zählt. Dennoch war auch der Ort ein anderer – Hewitt trat im in der Aula des Paulinums auf.
Pianist, Flügel, Ort – ja, es hätte noch extremer ausfallen können, hätte man Extrema gesucht. Aber darum ging es nicht, sondern um eine individuelle, persönliche, stimmige Interpretation der 300 bzw. fast 300 Jahre alten Werke auf einem modernen Flügel. »Verzeihen Sie mir, wenn ich das [Bach bzw. das Wohltemperierte Klavier, Anm. d. Red.] auf dem falschen Instrument spiele, aber es ist gut gemeint« ließ András Schiff mit dem für ihn typischen Humor zu diesem Anachronismus im Rahmen seiner Dankesworte wissen.
Edel klingen sie schließlich beide, die modernen Klaviere, auch wenn der Rezensent bei Schiff im C-Dur-Präludium noch den erdenden Baß etwas vermißte – er trat später noch hinzu. András Schiff ließ beherrscht die Fugen sprießen, sich in Wellen ergießen, formte sanfte Hügelketten – sein Spiel blieb klar, durchsichtig, aber (gerade im Vergleich) ein wenig intellektuell. Angela Hewitt faßte die Stücke des zweiten Teils deutlich körperhafter auf, theatralischer, spannte sie weiter von feinen Piani bis zu überspitzten, dramaturgischen Verwerfungen, wobei sich ihre Gestaltungskraft vor allem in der Dynamik zeigte, während sie in den Tempi nicht solche Wege (oder Eigenheiten) ging wie Schiff, der gerne einmal Rubati frei bzw. spontan gestaltet.
Bei ihm überwog oft die hellsichtige Interpretation, die viele Bezüge offenlegt – nicht nur entwickeln sich Fugen aus Präludien, auch die Paarungen haben unterschiedliche Kontrasttiefen. Noch feiner, raffinierter wurde es, als sich Choräle, sei es im Zitat oder in der Geste, oder Capricci in den Stücken offenbarten (wie in 849, 862, 858). Ach, wenn es doch mehr Ruhe gegeben hätte! Leider war diese in manchen Publikumsregionen jedoch nicht gegeben. Nicht nur Handys störten mehrfach, wobei diese lauthals ebenso Unruhe auslösen wie der Alarmcharakter eines permanent brummenden Mobiltelephons den Rhythmus der letzten Fuge störte.
Sonst hätte András Schiff sicher auch noch mehr subtile Schattierungen freilegen können, wie ihm dies in der Trias 859 / 860 / 861 gelang. Durchweg akademisch konnte man András Schiffs Vortrag ohnehin nicht nennen, dafür (bzw. dagegen) sprach schon die improvisatorische Frische in 866.
In Sachen subtiler Schattierungen jedoch erwies sich Angela Hewitts als noch tiefschürfender, ahnungsvoller und sinnlicher. Sie schlug damit – es dürfte Leipzig freuen – die Brücke zu Schumann. Und das ganz dem Affekt hingegeben, also ohne intellektuelle Argumentationsnotwendigkeit – so etwas reißt schlicht mit!
17. Juni 2022, Wolfram Quellmalz