Händels großartige Show

Collegium 1704 begann die Musikbrücke Prag-Dresden 2022 / 23 in der Dresdner Annenkirche

Musikfreunde nahmen vorab bedauernd zur Kenntnis, daß das traditionelle Neujahrskonzert in Dresden in dieser Spielzeit beim Prager Collegium 1704 fehlt – wie werden wir wohl das neue Jahr beginnen? Zumindest teilweise läßt sich der Ausfall kompensieren, denn im November gibt es gleich zwei Termine mit Václav Luks und seinen Ensembles (unten mehr).

Collegium 1704 in der Dresdner Annenkirche, Photo: NMB

Zum Auftakt gestern stand Georg Friedrich Händels Oratorium »Israel in Egypt« (HWV 54) auf dem Programm. Den Begriff »Oratorium« darf man hier keineswegs im Bach’schen Sinne verstehen, also im Zusammenhang mit einem Gottesdienst oder anderer Liturgie und einer Aufführung in der Kirche. Händel hatte mit den Oratorien eine neue Gattung alternativ zur Oper geschaffen, wobei zwar oft religiöse Themen und die biblische Geschichten aufgegriffen wurden, die Werke galten aber doch eher der (gleichwohl gehobenen) Unterhaltung als der Andacht. So wurde auch »Israel in Egypt« nicht in einer Kirche, sondern im King’s Theatre uraufgeführt. (Wie der »Messiah« in der William Neal’s New Music Hall in Dublin.) Zwischen den Akten gab es damals eine besondere Art Zwischenmusik oder Intermezzi –Händel schrieb dafür unter anderem seine Orgelkonzerte, die später erst beliebt und schließlich selbst festliche Hauptakteure in den Programmen wurden.

»Israel in Egypt« ist ein großartiges Chorwerk, das schon mit dem Beginn überrascht, denn die Sinfonia ist nicht dreiteilig wie sonst üblich mit zwei schnellen Ecksätzen, sondern ist relativ knapp und ruhig angelegt. Gleich danach leiten die Solisten kurz ein, doch schon bald steht der Chor für lange Zeit im Mittelpunkt. Juan Sanchos Tenor klang in den Rezitativen sehr kräftig, mit angereichertem Vibrato aber auch ein wenig künstlich, die spätere Arie »The enemy said, I will pursue« (»So sagte der Feind, ich eile nach«) machte einen etwas technischen oder »gestemmten« Eindruck. Dagegen konnte Alex Potter (Altus) schon im ersten Solo überzeugen. Im zweiten Teil steigerte er dies noch im Duett mit dem Tenor sowie in der Arie »Thou shalt bring them in« (»Bringe sie hinein«). In der Geschmeidigkeit und Kantabilität wandelte der Brite auf dem Grat zwischen kräftigem, doch männlichem Altus und femininem Alt – verblüffend!

Und doch stand der Abend ganz im Zeichen der Sänger und ihres Leiters Václav Luks. Zweichörig aufgestellt, beeindruckte das Collegium Vocale 1704 mit seiner dynamischen Gestaltung schon in der ersten »Nummer«. Nicht nur »They loathed to drink of the river« wohnte dieser Effekt inne, daß der Chor quasi größer wurde, anschwoll. Dabei blieb Václav Luks auf den Pfaden der dramaturgisch sinnvollen wie geschmackvollen Gestaltung – nur um des Beeindrucktsein willens ging es also nicht.

Auch nicht nur um Schönheit, obwohl Händel hier verblüfft: Ruft man sich den Inhalt der Texte vor Augen, die von Plagen und Seuchen berichten, überrascht die Schönheit der Musik. Dann aber, mit den Worten »He sent a thick darkness over the land« (»Er sandte dicke Finsternis über all das Land«) breitete sich die Dunkelheit ebenso musikalisch aus. Frappierend, wie Händel bzw. Luks hier den erzählerisch-dramaturgischen Tief- zu einem musikalischen Höhepunkt des Feingefühls mach[t]en!

Obwohl dem Chor (fast) die ganze Aufmerksamkeit galt, so waren Soli und Duette reizvoll und bemerkenswert. Nicht nur, weil hier mit Tereza Zimková und Helena Hozová bzw. Tomáš Šelc und dem kernig klingenden Tadeáš Hoza jeweils zwei individuelle Soprane bzw. Bässe zusammentrafen, sondern nicht weniger, weil sie aus dem Instrumentalensemble durch fabelhafte Bläser unterstützt wurden. Während die Oboen (Katharina Andres, José Manuel Cuadrado) als »Sänger« längst etabliert sind, erwiesen sich die Fagotte (Györgyi Farkas und Kamila Marcinkowska) als nicht weniger kantabel. Derweil unterstrichen Posaunen (Stanislav Penk, Ondřej Sokol, Pavel Novotný), Trompeten (Hans-Martin Rux und Aline Théry) sowie Pauken (Daniel Schäbe) gerade im zweiten Teil des Oratoriums immer wieder den festlichen Charakter.

Eine riesen Show, könnte man meinen – ja, aber nur im besten Sinn. Denn das Collegium blieb dabei, dem Affekt, also der Darstellung von Gefühlen, gegenüber dem Effekt den Vorrang zu gewähren. Und immer wieder tauchen dabei aus den eigenen Reihen Solisten auf, die bezaubern, wie diesmal Tereza Zimková, die ein weiches Timbre mit angenehmem Strahlen verband, brillant und lieblich singen konnte – so stellt man sich einen Händel-Sopran vor!!!

13. Oktober 2022, Wolfram Quellmalz

Das Collegium 1704 kommt im nächsten Monat gleich zweimal nach Dresden. Unter dem Titel Missa Omnium Sanctorum gibt es am 12. November Jan Dismas Zelenkas gleichnamige Messe (ZWV 21) sowie Georg Friedrich Händels Dixit Dominus (HWV 232) zu hören (19:30 Uhr, Annenkirche). Schon zuvor sind die Prager am 4. November beim Themenfestivals »Vom Leben – Über Leben« (eine Kooperation mit den Kasseler Musiktagen und dem Internationalen Heinrich-Schütz-Fest 2022, der Internationalen Heinrich-Schütz-Gesellschaft Kassel) zu Gast. Dann stehen Auszüge aus Heinrich Schütz‘ Symphoniae Sacrae III (SWV 398 – 418) sowie Claudio Monteverdis Selva morale e spirituale auf dem Programm (20:00 Uhr, Kreuzkirche).

collegium1704.com

http://www.schütz-musikfest.de

http://www.kreuzkirche-dresden.de

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