Auftakt zum nächsten Zyklus?

Herbert Blomstedt zurück am Pult des Gewandhausorchesters

Was hat der Mann in den letzten Jahren nicht alles mit diesem Orchester aufgeführt und aufgenommen – Beethoven, Bruckner, Brahms … ganze Zyklen sind entstanden, vieles davon auf CD oder DVD festgehalten. Und jetzt, mit 95 Jahren, scheint er beinahe zum nächsten Zyklus anzusetzen (oder gar zu zwei). Gerade und noch einmal im Frühjahr stehen im Großen Concert des Gewandhauses zu Leipzig Sinfoniepaarungen auf dem Programm – Berwald trifft Schubert. Die erste Begegnung gab es gestern (noch einmal heute und am Sonntag) mit den Sinfonien Nr. 3 (D 200) von Franz Schubert sowie der vierten von Franz Berwald. Ein halbes Jahr nur sind die beiden Franz dem Geburtstag nach voneinander entfernt. Geographisch wie im Lebensalter trennte sie viel mehr. Und musikalisch?

Doch bevor sich Orchester und Publikum mit dieser Frage auseinandersetzen konnten, gab es zwei wichtigere Dinge. Zunächst die Ankunft des Ehrendirigenten. Als Herbert Blomstedt gestern abend punkt acht den Saal betrat, brauste Applaus auf, Jubel hier und da. Der Dirigent ging zum Pult, schien abzuwinken, als wollte er sagen, »ach was …«

Ministerpräsident Michael Kretschmer hat – stellvertretend für den Bundespräsidenten – das Große Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Professor Herbert Blomstedt überreicht. Photo: Sächsische Staatskanzlei, © Pawel Sosnowski

Keineswegs »ach was« stand auf dem Programm, weder auf dem musikalischen noch auf dem gesellschaftlichen, denn bevor sich alles um die Musik drehte, wurde dem vielfachen Ehrendirigenten das Bundesverdienstkreuz verliehen, genauer das Große Verdienstkreuz mit Stern. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer übergab die Auszeichnung in Vertretung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und würdigte damit Herbert Blomstedts unermüdliche wie außerordentliche Verdienste. Und hob besonders eine seiner Gaben heraus, die uns Geschenk und Anstoß sei: die Haltung eines Menschen auf der Suche. Der so gelobte meinte, er »fühle sich klein« und nahm die Auszeichnung mit »Dankbarkeit und Ehrfurcht an«. Daß er sie gerade hier in Leipzig erhalte, mache ihn besonders glücklich, so Blomstedt weiter. Sachsen sei für ihn, der in Amerika geboren wurde, immer die musikalische Heimat gewesen – über 40 Jahre habe er hier gearbeitet – »das heißt musiziert«, korrigierte sich der Maestro.

Und tut es noch! Denn nach dem feierlichen Akt durfte Franz Schuberts dritte Sinfonie erklingen, leicht und beschwingt, tänzerisch und irgendwie frei – so frei, wie ein schöpferischer Mensch frei im Kopf ist, der sich auf eine Suche begibt. Daß Blomstedt schon lange die sogenannte deutsche Orchesterordnung bevorzugt, bei der sich erste und zweite Violinen gegenübersitzen, kennt man, auch hierin ist der Maestro vorbildhaft. Es befördert den Wechsel der Themen, die sich in den Ecksätzen flott bewegen, dabei schien das Orchester niemals gehetzt – eine Falle, in die viele Dirigenten leicht tappen, wenn sie die Affekte eines Allegro oder gar Presto herausputzen. Besonders die Klarinette (Peter Schurrock) stieß die Themen an – Herbert Blomstedt lobte sie im Anschluß an die Sinfonie besonders hervor – Flöte (Cornelia Grohmann) und Oboe (Henrik Wahlgren) durften wechselseitige Soli spinnen – mit einer Leichtigkeit, die verführte. Im dritten Satz fanden Oboe und Fagott (David Petersen) zu einem geschmeidigen Paarlauf, bevor das Presto vivace eine Vitalität versprühte, wie sie Michael Kretschmer eingangs auch der Person Herbert Blomstedt zugeschrieben hatte.

Applaus nach dem Konzert für Dirigent Herbert Blomstedt und das Gewandhausorchester Leipzig (links: Konzertmeister Sebastian Breuninger), Photo: Gewandhaus zu Leipzig, © Gert Mothes

Nach der Pause dann Franz Berwald. Im leichten Spiel der Holzbläser mochte man zunächst noch eine Brücke zu Schubert finden, doch nur kurz, allein die reich besetzten Blechbläser fesselten schon mehr Aufmerksamkeit. Der zweite Satz begann unmißverständlich nordisch (fast wie man es von einem schwedischen Komponisten erwarten würde). Zumindest Motiv und Farbe entsprachen dem, der schwebende Bläserchor wurde geradezu elegisch. An das mendelssohnflinke Scherzo schloß sich ein letzter Satz, bei dem Herbert Blomstedt die Akkordspitzen sauber herausputzte. Den weiten Anlauf danach schien er zu genießen – und hier ähnelten sich Schubert und Berwald noch einmal; darin, ein großes Finale anzusetzen und mehrfach das Ende anzukündigen, aber immer noch einen Schnörkel anzusetzen – Schubert war darin ein Meister, Berwald kommt ihm nahe. Daß er auch sonst den Kollegen nicht ganz erreichte, mag unfair klingen – sagen wir lieber: Schubert war schon das größere Genie. Die Entdeckung Berwald sollte man sich deshalb noch lange nicht nehmen lassen. Derart erfrischt kann man sich auf das nächste Gipfeltreffen freuen – im April treffen sich Blomstedt, Schubert und Berwald in Leipzig wieder.

11. November 2022, Wolfram Quellmalz

27., 28. und 30. April 2023: Großes Concert, Gewandhaus zu Leipzig, Gewandhausorchester, Herbert Blomstedt (Leitung), Franz Schubert / Sinfonie Nr. 6 (»kleine C-Dur-Sinfonie«) und Franz Berwald / Sinfonie Nr. 2 (»Capricieuse«)

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