Themenfestival »Vom Leben« in und um Dresden
Mit dem 350. Todestag von Heinrich Schütz am Sonntag endete das Festjahr »Schütz22«. Es brachte noch einmal viele Aufführungen nach Dresden, strahlte bis in die Umgebung. Rückblickend läßt sich sagen: Schütz ergreift heute noch. Selbst dann, wenn man ein Werk (Musikalische Exequien) an diesem Wochenende dreimal hörte, stellte sich kein Gefühl von Gewöhnung ein. Man kann davon ausgehen, daß »das Thema Schütz« nun nicht bis zum Beginn des nächsten Heinrich Schütz Musikfestes im Oktober kommenden Jahres ruht, im Gegenteil – Projekte wie »Sing Schütz!«, »Open Psalter« oder »sonntagsSchütz« haben seine Musik beflügelt und für Nachhaltigkeit gesorgt.
Was Musik bewirken könne, hatte Intendantin Christina Siegfried noch einmal am Sonntag vor dem festlichen Abschlußkonzert in der Dresdner Frauenkirche gefragt und sich nicht nur auf Martin Luthers derzeit vielzitierte Zeilen »Verleih uns Frieden gnädiglich« berufen, sondern auch jene von Johann Walther hinzugefügt: »Gib unsern Fürsten und aller Obrigkeit | Fried und gut Regiment, daß wir unter ihnen | ein geruhig und stilles Leben führen mögen | in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit, | Amen« – Heinrich Schütz hatte sie beide vertont. Musik sei, so Siegfried weiter, neben Arithmetik, Astronomie und Geometrie Teil des »Quadriviums«, dessen vier Disziplinen die Ordnung der Welt beschrieben. Zu dieser Ordnung gehöre der Frieden, auch im Menschen.
Seinen Frieden (mit sich selbst) machen, das konnte man in diesem Festjahr oft in den Gottesdiensten mit Musik Heinrich Schütz‘. Wie am frühen Sonntagabend in der Frauenkirche, wo Pfarrer Holger Treutmann auf die Bedeutung verwies, sich mit dem eigenen Sterben zu befassen. »Sie ruhen von ihrer Arbeit, und ihre Werke folgen ihnen nach« heißt es in der Bibel (Offenbarung 14:13) – auch das hat Schütz vertont (»Selig sind die Toten«, SWV 391). Sein Landesherr, Heinrich Posthumus Reuß, hatte sich intensiv auf sein Sterben, den Tod vorbereitet, Texte ausgewählt und bei Heinrich Schütz die Musikalischen Exequien (SWV 279–281) in Auftrag gegeben. Das Sächsische Vocalensemble hatte die Lutherische Trauermesse am Sonnabend in der Annenkirche im Programm, außerdem weitere Werke Heinrich Schütz‘ sowie Bernd Frankes »Und alles schrie«, das uraufgeführt wurde. Die Komposition war eine von vielen »Brücken in die Gegenwart« in diesem Festjahr – Schütz regt an. Der Text (Christian Lehnert unter Verwendung von Zitaten Jakob Böhmes) entstand für dieses Projekt, dreiteilig wie die Musikalischen Exequien, doch anders als bei Schütz, der am Schluß den »Selig-sind-die-Toten«-Text aufgreift, bleiben bei Franke Dunkelheit und Riß, Brüchigkeit und Zweifel, mehr Frage als Zuversicht – dabei lebte Heinrich Schütz doch keineswegs in »hellen Zeiten«! Bernd Franke arbeitet mit modernen Mitteln, läßt den Chor singen, sprechen, flüstern, zischen – nicht immer trägt das zur Verständlichkeit bei. Vor allem: mit dem direkt nachfolgenden SWV 391 offenbarte sich eine Fallhöhe – während die Uraufführung den Intellekt ansprach, Zeit, Gott, Dunkelheit und Licht abstrahierte, umschließt die Musik von Heinrich Schütz ganz unmittelbar, erlaubt es, die Augen zu schließen und sich »fallen« zu lassen.

Sonnabendkonzert mit Uraufführung: Sächsisches Vocalensemble in der Annenkirche Dresden, Photo: HSMF, © David Nuglisch
Um so mehr, da Matthias Jung mit dem Vocalensemble eine wunderbar geschlossene Aufführung gelang. Er hatte die Solisten (Elisabeth Mücksch und Franziska Eberhardt / Sopran, Jean-Max Lattemann / Alt, Christian Lutz / Tenor und Steven Klose / Baß) nicht exponiert aufgestellt, sondern in den Chor integriert, was für eine stabilisierende Wirkung sorgte. Die Batzdorfer Hofkapelle erwies sich als flexible, farbenreiche Begleitung.
Auch im Rahmen der Andachten waren die Musikalischen Exequien zu hören, wie am Sonntagmorgen im Gottesdienst der Kirche Cossebaude, wo das Aichinger Consort wieder einmal die musikalische Gestaltung übernommen hatte. Mit kleinem Solistenensemble, Gambenconsort, je zwei Posaunen und Zinken sowie Orgel entfaltete sich hier die außerordentliche Wirkung – die Musikalischen Exequien leiten nicht nur in ein Ende über (»Herr, nun lässest du deinen Diener in Friede fahren«), sie feiern nicht zuletzt das Leben bzw. die Werke, welche den Verstorbenen nachfolgen.

Kreuzchorvesper im Rahmen des Themenfestivals »Vom Leben«, Photo: Kreuzkirche Dresden
Der Kreuzchor hatte sich in den letzten Wochen bereits stark an der Schütz-Ausleuchtung beteiligt und dabei eine wiedererstarkte Freude bewiesen. Mittlerweile hat sich die aufgefrischte Form, beginnend mit einem jeweils neu geschriebenen Introitus von Wilfried Kretschmar (diesmal: »Gottes Knechte werden ihm dienen und sein Angesicht sehen«), nicht nur bewährt, sie sorgt ihrerseits für eine geschlossene, nahbare, verständliche Darbietung. Und nicht zuletzt für eine beseligende Wirkung oder Frieden im Menschen, wie Christina Siegfried es genannt hatte. Dabei konnte man auch diesmal manches entdecken, denn neben Schütz‘ »Die mit Tränen säen« (SWV 378) gab es noch eine Vertonung des Textes von Schütz‘ Zeitgenossen Johann Hermann Schein, außerdem dessen »Unser Leben währet siebnzig Jahr« (aus dem Israelsbrünnlein) – was der Chor derzeit der Gemeinde »mitgibt«, kann man gar nicht hoch genug schätzen!

Zweites Festkonzert im Rahmen des Heinrich-Schütz-Semesters der Musikhochschule Dresden, Photo: NMB
Die Dresdner Musikhochschule hatte ihre Schütz-Tage fortgesetzt, wobei sie noch zwei weitere Brücken aufschlug: denn der »Studiochor« (Chor der Lehramtsstudenten) begann das Konzert am Sonntagnachmittag mit einer Improvisation, später folgte mit »Passio« von Hristina Šušak (Klasse Mark Andre) eine Uraufführung, in welcher die Komponistin Johann Sebastian Bachs Ricercar à 6, dessen Bearbeitung von Anton Webern für Sinfonieorchester zuvor erklungen war, aufgriff. Das Hochschulsinfonieorchester (Leitung: Ekkehard Klemm) zeigte sich wieder einmal als vielseitiger Begleiter, als erweiterter Basso continuo, mit expliziten Soli und schließlich in seiner ursprünglichen Funktion, denn das Konzert endete mit Johannes Brahms‘ vierter Sinfonie.

Fest- und Abschlußkonzert in der Frauenkirche: Cappella Sagittariana Dresden, Solisten, Photo: HSMF, © David Nuglisch
So schloß sich am Sonntagabend mit dem Festkonzert in der Frauenkirche ein Kreis. Die Musikalischen Exequien noch einmal zu hören, war keine Wiederholung, sondern ein drittes Erlebnis an anderem Ort mit anderen Ausführenden. Immerhin hat sich Norbert Schusters Cappella Sagittariana schließlich nach dem Sagittarius benannt! Mit Anna Kellnhofer und Viola Blache (Sopran), David Erler und Stefan Kunath (Altus), Daniel Schreiber und Wolfram Lattke (Tenor) sowie Felix Schwandtke und Matthias Lutze (Baß) forschte Norbert Schuster den Raum bis in die Choremporen aus, ließ in Mehrchörigkeit singen und spielen und brachte – sehr ausgewogen – nicht wenig das zum Klingen, was Heinrich Schütz in Venedig in San Marco erlebt haben muß.
7. November 2022, Wolfram Quellmalz
Weitere Veranstaltungen (Auswahl):
3. Festkonzert zum Heinrich-Schütz-Semester mit AuditivVokal am 4. Februar in der Musikhochschule (Uraufführungsdatum der Musikalische Exequien)
Das Aichinger Consort spielt wieder am 4. Advent im Gottesdienst (18. Dezember, 10:00 Uhr Evangelische Kirche Cossebaude).
Tip: Dokumentarfilm »Heinrich Schütz – Der Begründer der deutschen Barockmusik«, in der Mediathek von ARD und arte