Pariser Weihnacht

Uralte Dresdner »Bohème« musikalisch veredelt

Es wäre mittlerweile längst an der Zeit, auch die Inszenierung von »La bohème« an der Dresdner Semperoper einmal zu ersetzen. Und sei sie noch so schön und beliebt – dem Geburtstag nach (23. Oktober 1983, damals noch im Staatsschauspiel, die Semperoper wurde erst 1985 wiedereröffnet) gehört sie (schon seit Jahren mit dem Zusatz »nach« Christine Mielitz versehen) doch eigentlich in Rente. Immerhin illustriert sie Paris über den Dächern und auf den Plätzen so gekonnt (Bühne und Kostüme: Peter Heilein), daß sich keine Regieeffekte abnützen. Wenn die Aufführung stimmt, ist das Alter der Inszenierung bald vergessen!

La Boheme

Weihnachtsabend in Paris, »La bohème«, Ensemble, Photo: Sächsische Staatsoper, © Frank Hoehler

DAS STÜCK

Für viele ist »La bohème« ein Stück über die Liebe, aber es ist auch ein Stück über das Leben. So wie sich in Mimì und Rodolfo sowie Musetta und Marcello zwei Paare finden, die höchst unterschiedlich mit der Liebe umgehen, geben Schaunard, Colline, Benoît oder Alcindoro nicht weniger Einblicke über den Umgang mit dem Leben (sowie dem Geld) und wie sich im Laufe der Zeit manche Erkenntnisse durch Erfahrung wandelt. Den Stein der Weisen findet keiner – Probleme lösen oder sie leicht nehmen (und nicht lösen) ist eine Frage der Mentalität oder Balance. Schlicht »schwarz und weiß« läßt sich die Frage nicht beantworten.

So taumeln Musetta und Marcello durchs Leben, lassen einander los, finden aber auch wieder zusammen – nehmen sie die Liebe / Treue nicht so ernst? Rodolfo und Mimì zeigen, daß sie keinen Schritt weiter kommen mit ihrem Liebes- und Treueanspruch: er führt in die Eifersucht. Schlimmer noch: Mimì ist krank und kann sich nicht kurieren. Zu Weihnachten entflammt ihre Liebe, in der Winterzeit stirbt sie – mit Mimì.

DIE AUFFÜHRUNG

Giacomo Puccinis Oper ist ein schöner Anreiz, immer wieder gesehen zu werden. Gerade zur Weihnachts- oder Winterzeit paßt sie doch sehr gut. Mehr noch, wenn sich besondere Gäste ansagen. Für zwei der Vorstellungen hatte die Semperoper Jonathan Tetelman verpflichtet, der allein schon ein Grund gewesen wäre, hinzugehen – er hat die Erwartungen mehr als erfüllt! Denn der Tenor betört nicht nur mit sagenhaftem Timbre, er kann weite Bögen spannen und seinen Gesang von Liebe durchglüht aufleuchten lassen. Dabei blieb er unprätentiös und ins Spiel integriert, womit gleich der zweite große Pluspunkt dieser Aufführung genannt wäre: der Zusammenhalt von Orchester und Bühne sowie des Ensembles. Wesentlich dafür verantwortlich war Dirigentin Giedrė Šlekytė, die an diesem Abend (13. Januar) ihr Hausdebüt feierte. Ihr gelang eine so umsichtige wie zielgerichtete Leitung, bei der das Orchester die Sänger nie verdeckte, die Leidenschaft von Mimì und Rodolfo in den ersten Bildern über mehrere Stufen wachsen konnte, und trotz wesentlich veristischer Ansätze vieles doch lyrisch blieb – gerade das konnte berühren!

Und so entspannen sich ebenso energiegeladene Paarbeziehungen, wie kleine Gesten bemerkbar blieben, musikalisch wie szenisch. Jonathan Tetelman agierte nicht als herausgehobener Star, sondern auf seine Partner bezogen. Bei seinen Partnern ließen sich manche Entdeckungen machen: Hrachuhí Bassénz war als Mimì nicht weniger hinreißend als die extrem »entzündliche« Musetta Ofeliya Pogosyans. Letztere gehört übrigens zum Jungen Ensemble der Semperoper. Die beiden Damen begeisterten vor allem mit feinen (Liebes)liedkantilenen (Bassénz) – eine Mimì, die hingebungs- und aufopferungsvoll liebte – und jugendlicher Verve, unwiderstehlicher Leucht- und Strahlkraft (Pogosyan). Musettas Aufschrei mitten im turbulenten Paris des Weihnachtstages auf gleichsam ein Weckruf für alle! Alexey Markov (Marcello), Ilya Silchuk (Schaunard), Matthias Henneberg (Colline) Hans-Joachim Ketelsen (Benoît) und Bernd Zettisch (Alcindoro) spielten ihre Erfahrung aus, sorgten für ein stimmiges und pointiertes Ensemble. Selbst in (scheinbaren) Nebenrollen wie Benoît oder Alcindoro fanden sich Witz und Charme wieder, etwa wenn der Vermieter Benoît zu Heiligabend die Miete anmahnt und gleich die Glühbirnen der säumigen Künstler-WG entfernt.

Sorgten für einen überragenden Eindruck: Dirigentin Giedrė Šlekytė (links, Photo: Künstleragentur Dr. Raab & Dr. Böhm, © Theresa Pewal) und Tenor Jonathan Tetelman (rechts auf seiner CD »Arias«, Deutsche Grammophon, Besprechung bei uns hier: https://neuemusikalischeblaetter.com/2022/12/06/die-neue-stimme/)

Neben der musikalisch fein von der Sächsischen Staatskapelle ausgemalten Oper (noch einmal ein Lob für die Dirigentin, denn nicht nur die Soli und Klangfarben zum Spiel auf der Bühne waren superb, Giedrė Šlekytė achtete vor allem stets auf eine nahezu perfekte Balance) stimmte das Spiel ganz vorzüglich. Das schließt die Chöre (Einstudierung Sächsischer Staatsopernchor Dresden: André Kellinghaus, Kinderchor der Semperoper Dresden: Claudia Sebastian-Bertsch) ausdrücklich mit ein sowie den präzisen Ablauf auf der Bühne. Das Pariser Weihnachtsfest zu dem Soldaten auf- und die begeisterten Kinder ihnen entgegenmarschieren – eine so exakte Choreographie muß man erst einmal erreichen!

Wenn schon »La bohème«, dann sollte möglichst viel passen – hier paßte alles.

15. Januar 2022, Wolfram Quellmalz

Giedrė Šlekytė übernimmt noch einmal die Leitung von »La bohème« an der Semperoper am 2. und 3. Februar, Jonathan Tetelman ist am 2. Februar wieder als Rodolfo zu erleben. Alle Termine und die gesamte Besetzung unter:

http://www.semperoper.de

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