Ring-Festzeit an der Semperoper
Richard Wagners »Der Ring des Nibelungen« ist schon zu normalen Zeiten ein Großprojekt, das die Semperoper nicht jährlich anbietet, sondern in zeitlichen Abständen – die sich noch verlängern, wenn eine Pandemie dazwischenkommt. Und weil diese alle betraf, kam es zuletzt zu einer Art »Ringstau« – binnen weniger Monate und Kilometer war Wagners Bühnenweihfestspiel mehrfach in Reichweite zu erleben. Für die Besucher der aktuellen Aufführung in der Semperoper war indes ein anderes Thema wichtig: es könnte vielleicht der letzte »Ring« von Christian Thielemann in Dresden sein. Für das Haus wäre es ein Verlust in der Zukunft, in bezug auf die Vergangenheit darf die Frage gestellt sein, ob die Sächsische Staatsoper nicht eine Chance vergeben hat, den nicht mehr ganz taufrischen »Ring« in der Amtszeit Thielemann, in die immerhin ein Wagner-Jubiläum fiel, durch eine Neuproduktion zu ersetzen. Mit Willy Deckers Inszenierung von 2001 sind indes Künstler wie Besucher im Grunde glücklich, dafür gab es neu gestaltete Programmhefte im aktuellen Stil des Hauses.

Rheingold: Fasolt (Georg Zeppenfeld), Wotan (John Lundgren), im Hintergrund: Froh (Tansel Akzeybek), Fricka (Christa Mayer), Loge (Daniel Behle), Donner (Lawson Anderson), Photo: Sächsische Staatsoper, © Ludwig Olah
Der Stil des Hauses ist aber wichtiger auf der Bühne und im Graben, und was sich dort abspielte, war großartig. Voreilig wäre es zu glauben, daß die richtigen Zutaten (etwa Thielemann, Zeppenfeld, Mayer) den Erfolg schon garantieren würden – mitnichten! Allerdings konnte sich die Sängerriege sehen lassen und mußte keinen Vergleich scheuen, auch nicht mit Bayreuth. Dabei gab es an den ersten beiden Abenden sechs Rollendebuts: neben Markus Marquardt als Alberich und Allison Oakes als Sieglinde gaben Michal Doron als Erda sowie Štěpánka Pučálková als Wellgunde (Rheingold) und Waltraude (Walküre) ihren Einstand.
Christian Thielemann agierte diesmal gar nicht so unsichtbar im Orchestergraben – vor allem im »Rheingold« (Freitag) war immer wieder sein Schatten auf den vorderen Stuhlreihen des Bühnenbildes von Wolfgang Gussmann zu sehen – für Willy Deckers Inszenierung hatte er ein Theater im Theater geschaffen, in dem Wotan den Weltregisseur spielt – die Licht-und-Schatteneffekte brachten zwei der Hauptakteure zusammen und erinnerten unbeabsichtigten an ihre gegenseitige Abhängigkeit. Es war eine gewinnbringende, elektrisierende!

Walküre: Siegmund (Andreas Schager), Sieglinde (Allison Oakes), Photo: Sächsische Staatsoper, © Ludwig Olah
Und wer sagt denn, daß der Chefdirigent zu langsamen Tempi neigt? Zwar meint man ihn darin zu kennen, sein Berliner »Ring« soll diesem Gusto gefolgt sein, doch die beiden Dresdner Abende gingen ungewohnt flott über die Bühne. Die im Programmheft angegebene Spieldauer unterbot die Sächsische Staatskapelle beide Male deutlich, doch war dieses Tempo nicht in Rasanz zu spüren, sondern sorgte für einen ungemeinen Sog. So startete die »Walküre« (Sonnabend) mit einem Vorspiel, das bündig und direkt an den Vorabend anzuschließen und ihn fortzusetzen schien. Daß die Kapelle nicht nur diese Tempi mitgehen und sie fein auszirkeln, sondern auch mit der Flexibilität ihres Chefdirigenten mitgehen kann, hat sie schon oft bewiesen. Die atmosphärische Dichte schien dennoch die vorherigen Ring-Zyklen zu übertreffen. Bild und Aktion verbanden sich mit der Musik, im erregten Nibelheim (Hämmer) ebenso wie in der Wolke über Walhall, die erst geisterhaft stehenblieb (wie dräuendes Unheil), zu den Walküren strömte und sich schließlich im Klang von Oboe und Klarinette auflöste.
Was aus dem Orchestergraben strömte, war nichts »wolkiges«, sondern purer Klang – Christian Thielemann hatte die dynamischen Kontraste noch einmal geschärft (Vorspiel Walküre!), ließ seine Kapelle funkeln, leuchten, sich entladen – um unversehens Stille einkehren zu lassen oder mit feiner Hand Akzente zu setzen (Wiederkehr des »Winterstürme«-Themas in den Celli am Beginn des zweiten Aufzuges »Walküre«). Das fand nicht nur eine symbiotische Entsprechung auf der Bühne (Blitze, Donner, Feuerring), sondern förderte den Gesang. Auch hier sorgte Flexibilität und knappes Agieren für einen raschen Wechsel von großem Effekt und feinfühliger Sängerbegleitung.

Walküre: vorne Mitte: Brünnhilde (Ricarda Merbeth), hinten: Wotan (John Lundgren), Walküren: Helmwige (Sarah Marie Kramer), Gerhilde (Clara Nadeshdin), Ortlinde (Brit-Tone Müllertz), Waltraute (Štěpánka Pučálková), Siegrune (Julia Rutigliano), Roßweiße (Marie-Luise Dreßen), Grimgerde (Katharina von Bülow), Schwertleite (Katharina Magiera), Photo: Sächsische Staatsoper, © Ludwig Olah
Frappierend war, daß das Orchester eigentlich zu keinem Zeitpunkt das Ensemble oder einen Solisten übertönte. Das tat nicht nur dem Gesang wohl, es förderte zudem das Spiel – kleine Gesten wie Worte blieben verständlich. John Lundgrens Wotan war von Beginn differenziert – nicht nur »Regisseur« und mächtiger Gott, er hat Visionen, ist Gestalter, und doch nicht in allem frei. John Lundgren beherrscht die Partie mühelos und fand Zugang zur Ambivalenz der Person. Begeisternd auch der Loge von Daniel Behle – weder in Spiel noch im Klang hat man ihn bisher so erlebt! Vielmehr scheint er hier einmal ein gestalterisches Potential auszuschöpfen, das bisher nur angedeutet war. Als vortreffliche Riesen agierten Georg Zeppenfeld (Fasolt) und Karl-Heinz Lehner (Fafner). Zeppenfeld gelang gleich einen Tag später ein markanter Richtungswechsel: schien Fasolt noch von Gier getrieben, zeigte er als Hunding Kalkül und Machtbewußtsein. Debütant Markus Marquardt steuerte seine Zauberkräfte als Schmied des Zauberrings bei.
Weit vorn in der Publikumsgunst lag Andreas Schager, der heute noch einmal als Siegfried zu erleben ist. Taufrisch und unverbraucht, im Grunde ein Held, konnte auch sein Siegmund schon scheinbar nach Belieben angriffslustig zulegen. Apropos »Publikumsliebling«: Christa Mayer wurde für ihre Fricka gefeiert, wobei der »Hausbonus« nur einen kleinen Anteil gehabt haben dürfte. Die Rolle schien ihr nicht nur maßgeschneidert, sie trug wesentlich zur Szenengestaltung (oder zur Wotan-Charakterisierung, siehe oben) bei. In Sachen Ambivalenz bzw. Entwicklung stand Allison Oaks‘ Sieglinde dem nicht nach: zu Beginn noch mädchenhaft lyrisch, wuchs sie mit dem Geschehen. Übertroffen wurde sie darin noch von Ricarda Merbeths Brünnhilde: zunehmend machtvoller, stärker, bewußter – ihre Aussprache mit Vater Wotan war ein dramaturgischer Höhepunkt und eine glanzvolle Gesamtleistung von Orchester, Dirigent und Sängern! Die gebotene Spannung dürfte bis zur Fortsetzung kaum nachlassen – Anschluß sehr wahrscheinlich.
1. Februar 2023, Wolfram Quellmalz
Richard Wagner »Der Ring des Nibelungen«, Semperoper Dresden, Christian Thielemann (Leitung), Teil 4 (»Götterdämmerung«) heute, zweiter Zyklus vom 5. bis 10. Februar
Die Richard-Wagner-Stätten-Graupa bieten ein Ring-Forum-Graupa mit Ausstellung und Sonderführungen an