Manches neu beim Dresdner Kammerchor
Hans-Christoph Rademann, künstlerischer Leiter des Dresdner Kammerchores, konnte sich am Dienstag über eine gute Ausgangsposition freuen. Nach einem Wechsel in der Leitung ist der Chor mit Vincent Kudrus (Geschäftsführung) und Agnes Heim (Projektmanagement) gut aufgestellt, das Zentralwerk als neuer Aufführungsort, im vergangenen Jahr sehr kurzfristig und zunächst als Ausweichquartier erkoren, hat sich binnen weniger Konzerte etabliert – 2023 findet hier die eigenständige Reihe »ZentralVokal« statt.

Photo: Dresdner Kammerchor, © Joschua Vlasanek
Der Kulturraum des Zentralwerks bietet manche Entdeckungsmöglichkeiten. In den ersten Konzerten wurde er vom Chor, der einmal von der Galerie sang, bereits ausgelotet. Daß man dort oben noch Besucher plazieren könnte, wird sich vielleicht schon bald bewähren müssen, denn der Saal war am Dienstag bis in die letzte Reihe gefüllt. Auch in dieser Hinsicht hat der Umzug aus dem Alten Pumpenhaus gelohnt, meint Hans-Christoph Rademann – im Zentralwerk habe man ungefähr die doppelte Platzkapazität.
Variationen im musikdramaturgischen Sinn gehören dazu, wenn man einen Raum erkundet oder eine Reihe belebt. Der Kammerchor blieb diesmal auf der Bühne, dafür wurde das a-cappella-Konzept mit einer Orgel (Inga Diestel) um eine Continuobegleitung ergänzt. Manches Stück, wie Heinrich Schütz‘ »Verleih uns Frieden« (SWV 372) – einer der meistgehörten Schütz-Titel derzeit – klang dabei noch eine Spur tatkräftiger und zuversichtlicher. Vielleicht auch, weil sich das folgende SWV 373 direkt anschloß: »Gib unser Fürsten und aller Obrigkeit« – beide Texte hat Schütz innig miteinander verbunden.
Sich von solcher Musik berühren zu lassen, ist eine Sache. Hans-Christoph Rademann sieht darin aber auch einen wichtigen Anstoß für sich und für uns, zum Beispiel wie wir miteinander umgehen. Doch selbst bei Heinrich Schütz gibt es noch manches zu entdecken – wie Die Deutsche Litanei (SWV 428). Dabei ist sie vielleicht eines der faszinierendsten Werke des Komponisten. Mit ihren vielen, variierenden textlichen Wiederholungen entspricht sie einem Gebet, das vom Kammerchor in einer unglaublichen Steigerung und Dramatik dargeboten wurde – hier war (früher im Programm) bereits die Tatkraft, kein Ausgeliefertsein, zu spüren.
Die Musik relativierte einiges, was Schauspieler Tom Quaas in gelesenen Texten vortrug, oder löste es auf. Manches, gerade Kurt Tucholskys »Krieg dem Kriege« ist vielleicht (als Schulstoff) noch vertraut, anderes, wie Andreas Gryphius‘ »Tränen des Vaterlandes« hielt die Schrecknisse vergangener Kriegszeiten vor Augen. Eine sehr reale Betroffenheit löste gleich der erste Text, ein Auszug aus »Die Farbe des Krieges« aus. Über eine Quintessenz, »jedes noch so dreckige Leben« sei »besser als der Tod«, hinaus schilderte er Kriegserlebnisse, Tod und Verlust. Jedoch handelte es sich nicht um eine historische Quelle: der Autor, Arkadi Babtschenko, 1977 geboren, ist ein Kriegsreporter von heute.

Photo: Dresdner Kammerchor, © Joschua Vlasanek
Nicht nur die Texte, auch die Zeiten setzte der Dresdner Kammerchor gekonnt in Relation, wobei ihm eine emphatische Belebung gelang. Der Duktus einer Klage war nicht vorherrschend, also nicht das Teilen gemeinsamer Kriegserfahrungen, sondern eher eine eigenverantwortliche Auseinandersetzung. Für mehr als Denkanstöße hatte schon der erste Titel gesorgt – mancher im Publikum war überrascht von Rudolf Mauersbergers »Wie liegt die Stadt so wüst«. Und gleich hier verblüffte die Variabilität des Chores, der ohne Risse in der Homogenität binnen weniger Verse zwischen Solisten, Vokalensemble und vollwertigem Chor wechseln konnte.
Das Hinterfragen von Texten und Liedern ist eine wesentliche Aufgabe bei der Erarbeitung solcher Programme. Vielleicht hat der Kammerchor auch deshalb über die Pandemiezeit seine Form gehalten. Immerhin habe man gerade dann, so Rademann, »anstrengende, schwere Projekte mit Abstandsregeln« durchgeführt. Mit dem Resultat, daß zum Beispiel die Eigenverantwortung der einzelnen Sänger gewachsen sei.
Und das spürte man immer wieder, bei den Soli wie Anna-Marie Tietze (Alt) in Maurice Duruflés »Ubi caritas et amor« wie im Wandelungsvermögen des Kammerchores, Zeiten und Sprachen betreffend. Mit Knut Nystedt und Kurt Hessenberg schloß das erste Programm von »ZentralVokal« in diesem Jahr. Die Reihe wird mit aller Variabilität fortgesetzt. Zum nächsten Konzert übernimmt erneut Konrad Schöbel das Dirigat, er ist einer jener jungen Dirigenten, die der eigenen Nachwuchsförderung entstammen, das letzte im Jahr (Dezember) übernimmt der Schwedische Chorspezialist Stefan Parkman. Ab Mai ist Hans-Christoph Rademann mit einem Großprojekt, »Bach.Visionen« der Internationalen Bachakademie Stuttgart, stark ausgelastet. Für ein Jahr wird ihn Stefan Parkman daher an der Hochschule und in manchen Konzerten ersetzen. Im Zentralwerk ist Hans-Christoph Rademann im September wieder zu erleben.
1. März 2023, Wolfram Quellmalz
Nächste Konzerte des Dresdner Kammerchores:
8. April, 21:00 Uhr, »Schütz im Kulturpalast«
9. (18:00 Uhr) und 10. April (19:30 Uhr), Kulturpalast, Händel: »Messiah«, Projekt mit der Dresdner Philharmonie
27. Mai, 17:00 Uhr: Frühlingskonzert in der Annenkirche
nächstes Konzert von ZentralVokal: 11. Juli, 19:30 Uhr, Zentralwerk, (Dirigent: Konrad Schöbel)