Christian Thielemann und die Sächsische Staatskapelle für Mahlers dritte Sinfonie frenetisch gefeiert
Gustav Mahlers Sinfonien sind nicht immer und in allem nachvollziehbar. Persönliche Bezüge statt musikalischer, überraschende Wendungen statt Entwicklung, dazu das Über-Format und die »Formenübergriffe« – ehrlich: für eine Mahler-Sinfonie braucht man mitunter viel Verständnis und Einfühlungsvermögen. Mag Wagner schon speziell scheinen, wenn er darauf bestand, die Akte seiner Opern »Aufzüge« zu nennen – wer kommt aber auf die Idee, die sechs (!) Sätze seiner Sinfonie in zwei »Abteilungen« zu gruppieren? Der Versuch, Mahlers Werke zu entschlüsseln, führt oft ins Persönliche des Komponisten – manches möchte man gar nicht erfahren!

Und doch fasziniert er, betört, vor allem dann, wenn er so präsentiert wird wie gestern (am 210. Geburtstag von Richard Wagner) in der Dresdner Semperoper von der Sächsischen Staatskapelle. Gleich zu Beginn erinnerte das Werk im ersten Satz (Kräftig. Entschieden) mit den Blechbläsern und Schlagwerken teils an Schostakowitsch (wir hatten zu Beginn der Dresdner Musikfestspiele einen Abend mit den Münchner Philharmonikern erlebt, die in ihrem Programm Mahler / 4 und Schostakowitsch / 6 kombinierten). Helle Holzbläser lockerten die Stimmung sogleich, die Violen traten hinzu, erst dann auch die übrigen Streicher. Gerade im ersten Satz fiel immer wieder die Orchesterteilung auf. Der Geschlossenheit des Klangkörpers konnte dies nichts anhaben, ob die fabelhafte Kontrabaßgruppe oder die in den Korpus wie eingeschlossen klingenden Solisten (Horn: Robert Langbein, Zoltán Mácsai) – Tonalität und Homogenität waren makellos! Hier war offenbar nicht nur ausgiebig geprobt worden, ein Blick in die Orchesteraufstellung offenbarte zudem, daß anders als sonst kaum Gäste dabei waren, eher Akademisten – das trug sicher zum geschlossenen Eindruck bei.
Nach dem übergewichtigen Beginn wurde es mit dem zweiten Satz (und der zweiten »Abteilung«) leichter – Mahler nähert sich hier graziös dem Menuett. Stimmung und Klang waren gelöst (nicht »locker«), im Scherzando steigerte sich das Orchester in Stufen auf ein gewaltiges Plateau. Tänzerisch leicht schien es trotz aller Gewichtigkeit, konnte aber auch ohne jedes »Kippeln« oder Wegbrechen in zauberische Piani versinken (Violingruppe).
Immer wieder traten die Bläsersolisten aus der Umschlossenheit heraus, Oboe (Céline Moinet steigerte später die Eleganz ihres Glissandos), eine großartig (!) glänzende (!) Posaune (Jonathan Nuss), Helmut Fuchs spielte das lange Posthornsolo hinter dem Vorhang – fabelhaft!
Ach, wäre nur dieses Handytönen nicht gewesen! Es stach mitten in den Beginn des vierten Satzes, Christian Thielemann brach kurz verärgert ab und begann von neuem – der äolische Klang von Harfe und Bässen darf nicht zerrissen werden! KS Christa Mayer schlüpft vielleicht nicht in die »Rolle ihres Lebens«, aber der Text »O Mensch! Gib Acht!« wurde von ihr so anmutig, sanft und klar verständlich geboten, daß der Rollenvergleich nahelag – wenn man bei Mahler »schmelzen« kann, dann bitte hier!!! Der Chor (Damen des Sächsischen Staatsopernchores Dresden / Einstudierung: André Kellinghaus, Kinderchor der Semperoper Dresden / Einstudierung: Claudia Sebastian-Bertsch) schloß sich dem bruchlos und ausdrucksstark an. Auch hier überzeugt die glänzende Verständlichkeit – großartig!
Was soll diesem Gesang noch folgen? Gustav Mahler fand einen Erlösungsmoment am Beginn des letzten Satzes, der sich wieder enorm steigert und schließlich apotheotisch endet. (Man fragt sich ein wenig, wozu er die ersten drei Sätze »benötigt« hat. Aber sagen, daß man vielleicht nur die Sätze vier, fünf und sechs aufführt, darf man wohl nicht …)
Und dann war Ruhe. Jene Stille nach der Musik wurde nicht zerrissen, blieb sekundenlang hängen, bis ein Beifall losbrach, der nicht enden wollte. Einige skandierten sogar stehend und rhythmisch – das kennt man nach Opernaufführungen, nicht aber nach einem Konzert!
Wie schön, daß dieses Konzert auf Reisen geht. Leipzig (Mahler-Festival), Hamburg und Wien stehen auf dem Programm. Für die Beteiligten, gerade des Kinderchores, könnte das ein einmaliges, prägendes Erlebnis werden.
23. Mai 2023, Wolfram Quellmalz