Moritzburg Festival entführte in unterschiedlichste Regionen
Natürlich wünscht man sich als Veranstalter mehr Zuschauer, will neues Publikum gewinnen, doch im Wachstum allein liegt die Lösung nicht – genauso wichtig ist es, den Bestand zu pflegen. Oder sogar wichtiger, denn er ist die substantielle Basis. Und so wendet sich das Moritzburg Festival nicht nur neuem Publikum zu (»Moritzburg für alle« am kommenden Sonnabend im Kulturpalast), sondern wahrt ebenso seine Ursprünge. Ein sanfter Wandel im Programm gehört schon immer zu einem der besten Kammermusikfeste in Deutschland. So begannen die Konzerte am Sonntag einmal nicht in der Gläsernen Manufaktur, im König-Albert-Theater Bad Elster oder in der Flugzeugwerft, sondern da, wo 1993 alles anfing – im Schloß Moritzburg. Einen neuen Ort wird es aber auch in diesem Jahr geben: am 13. August ist das Festival erstmalig im Käthe-Kollwitz-Haus zu Gast. Und noch im oder am Schloß findet Intendant Jan Vogler solche zu erschließen: erstmalig gab es zur Eröffnung ein kostenloses »Public viewing« auf der Schloßterrasse. Etwa 400 Plätze standen dafür bereit und fanden reichlich Zuspruch.
Noch mehr Zuhörer kann das Moritzburg Festival über das Radio erreichen, diesmal gleich wieder dreimal: am 11. August überträgt mdr Kultur im Rahmen des ARD-Radiofestivals direkt, am 13. und 14. August zeichnet Deutschlandradio Kultur auf (Ausstrahlung am 16. und 22. August).
Die Orchesterakademie ist seit ihrer Gründung 2006 immer wichtiger geworden, daher soll sie noch enger mit dem Festival verwoben werden. Erstmalig begannen beide also gleichzeitig – bisher hatte die Akademie einen Vorlauf von etwa einer Woche. Erleben kann man die Akademisten unter anderem in der »Orchesterwerkstatt« (8. August, Elbe Flugzeugwerke), beim Picknick in Proschwitz (11. August) und in der »Langen Nacht der Kammermusik« (Kirche Moritzburg, 15. August). Außerdem gibt es in diesem Jahr gleich fünf Stipendiaten, welche im Festivalprogramm sowie als Solisten mit der Akademie auftreten. Auch in den Jahren vor der Akademie hatte das Moritzburg Festival bereits solche hochbegabten Studenten in seine Reihen aufgenommen – heute gibt es so viele junge (Nachwuchs)Musiker wie lange nicht mehr.
Nachdem zuletzt sogar Kompositionsaufträge vergeben worden waren, fehlt in diesem Jahr allerdings eine Komponistenresidenz. Zwar kehrt mit Thomas Àdes ein »Ehemaliger« zurück, aber die Ausflüge ins zwanzigste, geschweige denn einundzwanzigste Jahrhundert bleiben rar. Anstelle der sonst in der zweiten Moritzburg-Woche stattfindenden Komponistengespräche gibt es mehr Portraitkonzerte um 19:00 Uhr als halbstündige Einstimmung auf den Abend.
(Unsere Rezension zum Eröffnungskonzert erschien zunächst in der Tagespresse und wird hier deshalb morgen, Mittwoch, nachgereicht. Daher »beginnen« wir mit dem zweiten Konzert:)
PORTRAITKONZERT
Den Mythos vom »wilden, teuflischen« Paganini focht Kevin Zhu mit vier Stücken hinfort, die es am gestrigen Abend vorab zu hören gab. Gerade in der Verarbeitung von zeitgenössischen Opernthemen hatte der Komponist eine Stärke bewiesen, mit welcher nun der 17jährige Geiger auftrumpfen konnte: In »Introduktion und Variation über ›Nel cor più non mi sento‹« (»Mich fliehen alle Freuden« aus der Oper »La molinara« / »Die Müllerin« von Giovanni Paisiello) spielte er mit bis zu drei Stimmen – zwei für die rechte (Bogen-)Hand, eine für die linke, so daß man die Situation einer anmutigen Sopranistin, die eine Mandoline begleitete, imaginieren konnte. Die technische Perfektion Zhus war verblüffend – ein Auswahlkriterium für Akademisten wie Stipendiaten, denn nur auf diese Beherrschung kann man aufbauen und dazulernen, hatte Jan Vogler eben noch im Radiointerview erklärt. Man darf also gespannt sein, wohin der Weg den jungen Musiker führen wird – eine Wiederkehr nach Moritzburg ist wahrscheinlich.
KONZERT
Paganini hatte auch Themen Gioachino Rossinis verarbeitet, mit diesem ging es nach kurzer Pause im Hauptkonzert weiter. Die »Sonate« Nr. 4 B-Dur, das Werk eines Zwölfjährigen, ist ein Quartett ohne Bratsche, dafür mit einem Kontrabaß. Und dieser hat virtuos mitzuzirpen, statt nur continuo zu begleiten. Alexander Edelmann, der zweite Stipendiat des Abends, vermochte einen betörenden Baßton zu erzeugen, der sich mit den anderen Stimmen sinnlich umschlang. Kevin Zhu und Mira Wang offenbarten individuell geprägte Violinstimmen – Zhu einen brillierenden Liedgesang, wohingegen Wang mit gläserner Härte und leichter Rauhheit charakterprägend formte. Hayoung Chois (Violoncello) war hier weniger »bindend« als sonst oft die Mittelstimme, sondern wußte wie Alexander Edelmann die Themendurchführung zu gestalten. Ungeheuer frisch und leicht geriet die Sonate, offenbarte den Intermezzo-Charakter im Andante.
»Gefühle umschalten« hieß es nun, denn Dmitri Schostakowitschs zweites Klaviertrio (e-Moll) hat ein ganz anderes Gemüt. Trauer, Hoffnungslosigkeit, Widersetzlichkeit – ein verquickter musikalischer Disput. Guy Johnston (Violoncello) ließ schneidenden Wind in weiter Ferne aufkommen, Jesse Mills (Violine) gesellte sich dazu, gegenüber zunächst, doch fanden beide Streicher zusammen. Es schien, als umschleiche und umlauere sich das Trio immer wieder – Tiffany Poon konnte aufpeitschende »Hiebe« mit dem Steingraeber & Söhne ebenso erteilen wie sanft umhauchen. Das ständige Absinken, Aufbäumen – Bersten fast – belebte das Trio mit individueller, impulsiver Kraft. Die eisigen Flageoletts im letzten Satz entlarvten den zuvor aufgeführten Tanz als bar jeder Hoffnung. Bedenkt man, daß dieses Trio erst in Moritzburg zusammenfand, konnte das Maß, mit dem sie Schostakowitsch durchforsteten, nur verblüffen – einmalig!
Nach der Pause wurde das Publikum noch einmal mit einem neuen Gemüt konfrontiert – jenem von Johannes Brahms. »Es schwirren jetzt furchtbar viele Noten in meinem Kopf und auch auf dem Papier herum, hätt‘ ich nur mehr Ruhe! Aber es bleibt immer beim Anfangen, ich bringe nichts fertig« schrieb Brahms 1855 an die »Geliebte Frau Clara«. Ob das Klavierquartett Opus 60 schon angefangen war? Brahms brachte es zu Ende (wie vieles andere in dieser Zeit, zeigt ein Blick in sein Werkverzeichnis).
Brahms ist ein Idealfall für das Moritzburg Festival. Antti Siirala (Klavier), Mira Wang, Ziyu Shen (Viola) und Jan Vogler (Violoncello) weckten ihn, küßten ihn wach. Brahms‘ Küsse konnten derb sein, wußte das Quartett, und begann mit Akkordschlägen (Siirala), denen sich die Streicher unisono beigesellten. Und auch hier war die Individualität verblüffend, mit der das Quartett im einzelnen spielte, ohne sein Ganzes zu verlieren. Und wer glaubt(e), die Viola sei ein langweiliges Instrument, der hörte bei Brahms, wie Shen mit Tremolo und Puls belebte, aber ebenso, wie der Komponist das Instrument mit dem herben Charme der Violine konkurrieren ließ – Mira Wang und Ziyu Shen präsentierten sich als Schwestern im Geist. Immer wieder schien das Werk herniederzusinken, verfeinert zu werden – dann erklangen kurze Sonateneinflechtungen wie im ersten Satz (Viola) oder im dritten, dem das Violoncello von Jan Vogler goldene Ruhe gab. Aus Momenten der Beruhigung ließ Brahms die vier aber um so unbändiger losstürmen – bis sie nur mehr durch erneute Akkordschläge zur Räson gebracht werden konnten? Oder war es ein »Anruf« für die geliebte Clara?
Das Moritzburg Festival feiert Clara Schumann in seinem Konzert am Sonntag (Schloß Moritzburg).
7. August 2019, Wolfram Quellmalz
Nächste Konzerte: morgen: öffentliche Probe, Evangelische Kirche Moritzburg, 19:00 Uhr, Orchesterwerkstatt, Elbe-Flugzeugwerke Dresden, 19:00 Uhr
weitere Termine und Informationen: http://www.moritzburgfestival.de