François-Xavier Roth und Pierre-Laurent Aimard im Großen Concert des Gewandhausorchesters
Je »näher« uns Werke zeitlich rücken, desto fremder scheinen sie dem Publikum manchmal, dem man oft unterstellt, es käme gern zu Mozart und Beethoven, bleibe aber fern, wenn Schönberg oder Stockhausen auf dem Spielplan stehen. Getreu unserem Motto, sich mit denen zu (er)freuen, die kommen, wollen wir hier den Beweis oder Gegenbeweis gar nicht antreten, können aber (erfreut) feststellen, daß das Gewandhaus zu Leipzig gestern bei einem (recht) modernen Konzert (recht) gut gefüllt war. Auch wenn es manche freie Plätze gab, so hatten sich doch viele, viele Neugierige und Hörwillige bis auf die Orgelempore gefunden. Zu hören gab es György Ligeti, Béla Bartók und – Arnold Schönberg.
Übermanches konnte man staunen, wie über Ligetis »Atmosphères«, ein richtiges »Staunwerk«! Der Komponist läßt einen Klang kreisen, sich ändern, entzieht ihm dabei Melodie und Struktur soweit, daß man ihn bzw. die ganze Musik eher als Stimmung wahrnimmt. Das öffnet zahlreiche Assoziationsmöglichkeiten – sicher ein Grund für den Erfolg des Stückes. François-Xavier Roth, der an diesem Abend sein Debüt beim Gewandhausorchester feierte, ließ dem Stück viel Freiraum, ließ es sich entwickeln und dirigierte die (ligeti-typischen) leeren Takte am Ende beseelt mit zwei Händen, als sei es Beethovens »Pastorale« – andere Dirigenten beschränken sich hier auf ein metronomisches Taktzählen.
Die atmosphärischen Umwälzungen waren enorm, auch deshalb, weil es dem Orchester gelang, mit einer unmerklichen Wende einem Spannungshöhepunkt – einem Lichtblitz gleich – zuzustreben, der sich in dunklen Streichern und fallenden Motiven entlud.
Und das Staunen ging weiter: Béla Bartók zählt doch nun wirklich zu den oft und gern gespielten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Dennoch wurde sein 1927 uraufgeführtes erstes Klavierkonzert hier erst einmal (!), 1996 (!), gespielt. Der orchestrale Aufwand für das Stück ist ungeheuer: rechts vom Dirigenten saß der Paukist, links, noch vor der Reihe der ersten Violinen, eine solche der Schlagwerker (sechs Musiker!). Bartóks Konzert (eigentlich) für Klavier, Schlagwerke und Orchester entfernt sich zwar weit vom bisher bekannten, nimmt dieses aber auf und schließ es ein. Der Solist ist manchmal herausgestellt, dann kammermusikalisch eingebunden (gerade im zweiten Satz), dann wieder sinfonisch verwoben (erster und dritter Satz). Pierre-Laurent Aimard fand hier neben seinem gewohnt klaren und eleganten Spiel zu einer teilweise sehr expressiven Interpretation und bewies ein großes Einfühlungsvermögen. In der Ausgewogenheit der Orchestergruppen fehlte es dagegen manchmal noch an Prägnanz.
Der Pianist war mit der Darbietung und Unterstützung dennoch hocherfreut und bedankte sich für den warmen Applaus mit zwei Miniaturen György Kurtágs, die der Komponist für seine Ehefrau Márta Kurtág geschrieben hatte. Aimard spielte die eine große Ruhe und rhapsodische Gelassenheit verbreitenden Stücke als Hommage an die kürzlich verstorbene Pianistin.
Noch einmal durfte man Staunen, denn auch Arnold Schönbergs sinfonische Dichtung zu »Pelleas und Melisande« Opus 5, 1902 / 03 entstanden, war erstmals erst 1991 in Leipzig zu hören. Und: nachdem Ligeti und Bartók in ihren Stücken zuvor auf eine Harfe verzichtet hatten, brauchten »Pelleas und Melisande« gleich vier! Der frühe Schönberg ist ein äußerst zugänglicher, emotional und stimmungsreich wie Ligetis »Atmosphères«. Dabei beschwört er leicht – ohne daß man dies durch Vorkenntnis »erzwingen« müßte – die Bilder der Geschichte, wie sie ebenso in Claude Debussys Oper auftauchen.
Im Dialog mit dem Dunkel begeisterte das Gewandhausorchester gleich am Beginn mit den Holzbläsern, welche den Streichern gegenüberstehen und für eine reiche Schattierung sorgten. Immer wieder stachen Oboen, Klarinette oder Englischhorn fein heraus – im Detail war dies bestens herausgearbeitet, vollzog sich auch hier eine Wendung zum Licht, in der schließlich das Motiv der Viola von der Violine übernommen wird. Und doch blieb ein Rest Beklommenheit, Abschiedsstimmung.
Restlos glücklich war man dennoch nicht, denn über die Herausarbeitung der Details blieb die Gesamtspannung etwas vernachlässigt, was man nach etwa einem Dreiviertel des Stückes spürte. Gut möglich, daß Dirigent und Orchester heute noch näher zusammenrücken.
15. November 2019, Wolfram Quellmalz
Heute noch einmal: Großes Concert, 20:00 Uhr, Gewandhaus zu Leipzig, François-Xavier Roth (Dirigent) und Pierre-Laurent Aimard (Klavier), Gewandhausorchester, Werke von György Ligeti, Béla Bartók und Arnold Schönberg