Neue CD von Grigory Sokolov
Ein Akkord genügt – man ist nicht nur sofort durchdrungen von Beethoven, man fühlt sich in den Konzertsaal versetzt, vielleicht sogar – wie wir – zurückversetzt. Im Herbst vor zwei Jahren hatten wir zuletzt Grigory Sokolov im Leipziger Gewandhaus erlebt, ein halbes Jahr später im Dresdner Kulturpalast. Aus den damaligen Programmen hat die Deutsche Grammophon nun eine neue Aufnahme zusammengestellt, mitgeschnitten in Konzerten im Auditorio (Mozart Hall) des Palacio de Congresos de Zaragoza, beim Klavier-Festival Ruhr in der Stadthalle Wuppertal, beide 2019 entstanden, sowie in der Kirche San Bernardo in Rabbi (Trentino / Italien). Dabei hat die Deutsche Grammophone die Stücke so zusammengeschnitten, wie sie Grigory Sokolov in den Konzerten gespielt hat: auf die Beethoven-Sonate Opus 2 Nr. 3 ließ er ohne Unterbrechung die Bagatellen Opus 119 folgen – das ist auf der CD ebenso, obwohl die Aufnahmen an zwei verschiedenen Orten erfolgten.
Ludwig van Beethovens dritte Klaviersonate – kaum zu glauben, daß sie den Anfang einer Entwicklung markiert – zeigt den Meister auf einem frühen Höhepunkt, auf dem besten Wege, weitere Gipfel zu erklimmen. Die Lehrer-Schüler-Beziehung zu Joseph Haydn war nicht fruchtbar und währte nur kurz, daraus zu schließen, daß Verhältnis der beiden sei generell »gespannt« gewesen, greift nicht nur zu kurz, es ist vollkommen falsch. Das 1795 geschriebene Opus 2 Nr. 3 ist somit auch dem verehrten Haydn gewidmet.
Wege, sich ihr interpretatorisch zu nähern, gibt es wohl viele: analytisch, bedachtsam, mit Aplomb … Grigory Sokolov entfaltet die Sonate mit Delikatesse, verleiht ihr jugendlichen Impuls wie Gediegenheit und Raum – er läßt Ideen und effektvolle Blitze schießen, beläßt dies alles aber im Beethoven’schen Rahmen – effektheischend ist Sokolov niemals. Was nicht heißt, daß er den Zuhörer nicht immer wieder überrascht. Mit Akkordschlägen, gerade in Wiederholungen, mit Kontrastschärfe, mit leuchtend durchdachtem Affekt. Der Kopfsatz der Sonate gibt nicht nur den Ton an, er ist bestimmend für die gesamte erste CD, die allein Beethoven gewidmet ist. Das Adagio wird bei Sokolov zum dramatisch geladenen Höhepunkt, fast möchte man sagen »Spektakel« – wer könnte sich diesem suggestiven Sog widersetzen, vermochte ihm nicht zu folgen? Im Scherzo zeigt der Pianist, daß Beethoven die Haydn’sche Verspieltheit ebenso beherrschte, freilich in einer etwas impulsiveren Variante. Mutwillig akzentuiert Sokolov hier burlesk, harlekinesk, läßt ein Schumann’sches Trio wogen, bevor er das Werk – mit vier Sätzen strukturell und melodisch in sinfonischer Gestalt, in einer genialen Synthese aus Rondeau und Sonatenhauptsatzform ausklingen läßt. Auch hier erhält der Pianist die Balance aus rhythmischem Akzent und affektvoller Dramaturgie wunderbar in der Schwebe. Wie schon im Konzert fügt sich der Zyklus aus Sonate und den elf Bagatellen Opus 119 durchaus nicht zwangsläufig – muß er ja auch nicht. Nach dem weltumspannenden Opus 2 Nr. 3 richtet Grigory Sokolov seinen Blick erneut in den Beethoven-Kosmos, pflückt hier und da Pretiosen, läßt Miniaturen blinken, ergötzt sich an unerschöpflichen Momenten, wie einem galant-grazilen Andante con moto, das im Mittelteil energisch angetrieben wird (Nr. 2) oder einem hypermodernen, impressionistischen Funkeln (Allegro, ma non troppo, Nr. 7).
Johannes Brahms‘ Klavierstücke Opus 118, in denen man Schlußworte finden mag, Jugenderinnerungen oder wehmütige Grüße, klingen mit dem Nachhall der San-Bernardo-Kirche vielleicht etwas größer als gewohnt, doch die Aufnahme ist dennoch direkt, klar, die »Größe« paßt zum sanguinischen Brahms. Eröffnung und Nocturne liegen schon in den ersten beiden Intermezzi nahe beieinander, Grigory Sokolov formuliert jede Note mit Genuß aus, spendet ihnen aber auch eine innere Energie, die schlicht mitreißend, begeisternd ist. Immer füllt er das ganze Spektrum an Farben und Dynamik aus, verliert sich aber nicht in den Verästelungen, sondern zeichnet alles fein nach. Und so scheinen die Klavierstücke Opus 119, die sich erneut direkt anschließen, noch ein wenig endlicher, flüchtiger, bevor mit Nr. 3 die ganze Lebensglut noch einmal grazioso e giocoso aufleuchtet.
Auf den rhapsodischen Schluß folgen sieben Zugaben von Schubert, Rameau, Rachmaninow und noch einmal Brahms. Mit Claude Debussys »Des pas sur la neige« (Schritte im Schnee) entfernt sich Grigory Sokolov schließlich von seinen Zuhörern – wenn er wiederkehrt, sind wir dabei, versprochen.
Als besonderes Extra – wenn man das überhaupt »Extra« nennen darf – enthält die Aufnahme die DVD mit einem Konzertmitschnitt aus Turin (2017). Damals standen Mozarts KV 545 (Sonate C-Dur), 475 und 457 (Phantasie und Sonate C-Dur) sowie Beethovens Sonaten Nr. 27 und 32 nebst sechs Zugaben auf dem Programm.
Juli 2020, Wolfram Quellmalz
Grigory Sokolov (Klavier) »Beethoven – Brahms – Mozart«, 2 CDs, 1 DVD, Deutsche Grammophon
Wir kehren zurück in die Normalität – langsam und schrittweise. Die Folgen von Corona sind noch nicht abzusehen, selbst wenn die Zeichen momentan auf »Besserung« stehen. Die Neuen (musikalischen) Blätter freuen sich daher über Unterstützung, um auch künftig von Veranstaltungen, von neuen Büchern und CDs sowie Projekten aus der Kultur berichten zu können. Wenn Sie für den Erhalt der Zeitschrift spenden wollen, – wir sind für jeden Betrag dankbar!