Sonderkonzert der Sächsischen Staatskapelle zum Gründungstag mit Herbert Blomstedt
Ob nun Geburts- oder Gründungstag – für den 23. September ist bei der Sächsischen Staatskapelle Dresden ein Sonderkonzert fest im Programm eingeschrieben. Da nach wie vor nicht jeder Platz im Saal der Semperoper besetzt sein darf, gab es gestern eine zweite Aufführung vorab.
Ob Werkbezüge nun tatsächlich bestehen und im Rahmen einer Aufführung offengelegt oder ob sie historisch gar nicht gegeben (oder unsicher) sind und erst im Konzert hergestellt werden – wenn man Franz Schuberts »Unvollendete« und Anton Bruckners »Romantische Sinfonie« direkt nacheinander hört, kann man Gegensätze wie gemeinsame Ansatzpunkte finden, unterschiedliche Blickrichtungen und vielleicht auch eine gemeinsame Herkunft. Wirklich wertvoll an solchen Betrachtungen ist, wenn sie sich nicht auf Theoretisiererei beschränken, sondern emphatisch erfahrbar, fühlbar werden, so unmißverständlich wie mitunter unsicher und fraglich im Klang – bei beiden Komponisten.
Ob man sich zum Geburtstag etwas noch erhabeneres hätte aussuchen können als zwei Gipfelwerke der Königsgattung der Orchesterliteratur – auch das konnte und kann man, währenddessen wie im nachhinein, lustvoll diskutieren.
Über all dem steht sowieso das Phänomen Blomstedt. Es bzw. er thront nicht, er steht, aufrecht, gerade, vorbildhaft, als Licht- und Leitgestalt, jeder Fingerzeig ist eine präzise Anweisung, eine verbindliche Geste. Das fängt bei der Begrüßung an und endet nicht bei der ebenso herzlichen Verabschiedung, die Herbert Blomstedt schließlich – mit Dank für die Ruhe – dem Publikum gelten läßt.
Dazwischen schöpft er, so tief wie umsichtig, und die Kapelle streicht, tönt, leuchtet ihm entgegen, in der Schwebung des Anfangs (»Unvollendete«), deren Zauberkraft sogleich vom Horn (Robert Langbein) noch verstärkt wurde. Stück für Stück entblättert, entfaltet sich Schuberts Werk, um schließlich mit der zweiten Wiederkehr des Anfangsthema in voller Lebensgröße zu strahlen – jetzt ist da nichts mehr nur ahnungsvoll wie zu Beginn, sondern steuert kraftvoll auf ein Ziel zu.
Hoffnungsfroh, ja ungebremst geht es in den zweiten Satz. Und doch vermeiden Herbert Blomstedt und die Sächsische Staatskapelle eine allein lauthalse Attitude, bleiben differenziert. So fällt die Kantilene der Oboe (Bernd Schober) nicht als Gegensatz aus, sondern bleibt in den Streicherklang eingebettet. Ein Feld von Sonnenblumen scheint die Kapelle zu zeichnen, aus der sich plötzlich, fast brachial, blockartige, kraftvolle Akkorde erheben – könnte man hier, in diesen Blöcken, einen Verweis auf Bruckner finden?
Im Ausklang öffnet sich die Sinfonie – welchen Weg Schubert einschlagen wollte, bleibt ungeklärt. Ein offenes Finale ist ihm ebenso zuzutrauen wie der Vorsatz, diesem zweiten Satz ein Scherzo folgen zu lassen. Fest steht: Schubert war ein Vollendeter. Anders als andere, die im Zweifeln und Zaudern Werke verwarfen, gar vernichteten (Schumann / Brahms) oder beinahe unaufhörlich umschrieben (Bruckner), hielt er seine Gedanken, quasi als musikalische Substrat, fest und bewahrte es lieber im Zustand des Fragments, als einen Schluß zu erzwingen. Sein oft so bezeichnetes »Ringen« glich nicht dem qualvoll verzweifelten Suchen nach einem Klang, sondern dem Mut und der Offenheit, einen Gedanken, eine Emotion musikalisch zu fassen – das Ephemere wußte Schubert zu beschreiben wie kaum einer, »perfekt« war er – gottlob! – nicht.
Wie auch Anton Bruckner. Noch diese Gemeinsamkeit kann man beiden attestieren, daß sie beide im (Selbst)zweifel ihre größten Werke schufen. Und deren Kraft ist so groß, daß man sich ihnen vorbehaltlos hingeben kann. Wer Bruckner hört, muß also gar nicht Wagner suchen (oder finden), selbst wenn er in der Romantischen Sinfonie »liegen« sollte.
Die Kraft gab der Komponist dem Werk nicht zuletzt durch die Blechbläser, die zu Beginn wie von Ferne schimmernd riefen und (auch hier eine Wiederkehr) das Finale schließlich in eine majestätische Erhabenheit führen – solcher Glanz ist kaum einem Klangkörper beschieden! Zwischen Anfang und Ende geleitet Herbert Blomstedt durch Bruckners gebirgiges Gefilde, zeigt, wie keck der sein kann, wenn er durch Klüfte steigt, wenn die Hörner im dritten Satz frech ein Echo anstimmen, wie raffiniert, wenn Flöte und Horn im ersten keinen direkten Dialog eingehen, sondern die Szene fassen und ihr eine Kontur geben.
Oder gab es doch Gemeinsamkeiten mit Schubert? Weil Bruckner das im Anfang noch erhaben auftürmende Thema am Ende fraglich widerhallen läßt? Wie auch immer man es deuten mag – das Erlebnis war schlicht pure, musikalische Empfindung, die in sekundenlange Stille mündete, mit Herbert Blomstedt auf dem Pult verharrend, in der letzten Geste – schien es – die Faust gereckt. Erst dann löste sich diese Stille in tosendem Applaus auf.
23. September 2021, Wolfram Quellmalz
Heute noch einmal (20:00 Uhr, Sächsische Staatsoper / Semperoper Dresden): Sächsische Staatskapelle Dresden, Herbert Blomstedt (Leitung): Franz Schubert »Unvollendete Sinfonie«, Anton Bruckner »Romantische Sinfonie«, Die Konzerte werden aufgezeichnet und am 28. Oktober 20:03 Uhr auf Deutschlandfunk Kultur ausgestrahlt.