Lang Lang zu Besuch im Dresdner Kulturpalast
Es war ganz ungewohnt – dank 3G-Regel durfte der Kulturpalast bis auf den letzten Platz besetzt werden. Keine Lücken, keine Masken, statt dessen frei atmen und genießen! Dem Genuß bzw. der Stimmung stand jedoch zunächst das Anstehen entgegen – wegen der strengen Kontrollen bildeten sich lange Schlangen vor dem Palast. Das Personal war jedoch geschwind und bewältigte den riesigen Ansturm blitzschnell, kurz nach acht konnte es tatsächlich losgehen – Chapeau!
Klar wollten viele den Starpianisten hören und sehen, wohlgemerkt »Star«. Das Phänomen Lang Lang kann durchaus skeptisch stimmen, andererseits hat er in den letzten Jahren mit wichtigen Dirigenten zusammengearbeitet. Christoph Eschenbach äußerte sich dezidiert begeistert über ihn, sein Projekt mit keinem geringeren als Nikolaus Harnoncourt ist in einer sehenswerten Dokumentation »Mission Mozart« festgehalten. Grund genug also, wieder einmal neugierig hinzuhören.
Lang Lang begann sein Konzert mit Robert Schumanns Arabeske C-Dur, womit er dem Hauptwerk des Abends, Johann Sebastian Bachs Goldbergvariationen, ein Stück vorausstellte, das Pianisten gemeinhin gerne als Zugabe spielen. Die Verbindung zwischen beiden Werken erklärt das Programmheft mit bestechender Folgerichtigkeit: »Die Klaviermusik Johann Sebastian Bachs gehört neben der Literatur der großen Klassiker Mozart und Beethoven sowie der phantasiegeladenen virtuosen Klangweite der Romantiker zum Wertvollsten, was die Musikgeschichte für dieses Instrument hervorbrachte. Und so verwundert es kaum, daß Lang Lang in seinem heutigen Klavierabend einem der großen Bachschen Zyklen des Barock eine Miniatur des 19. Jahrhunderts aus der Feder des Romantikers Robert Schumann voranstellt.« – Aha! Genausogut hätte man darauf verweisen können, daß Leipzig für beide Komponisten Dreh- und Angelpunkt war. Oder daß es dem Pianisten schlicht so behagte. Aber vielleicht lag die Idee eher in der Erfahrung, daß sich die Bach’sche Konzentration nicht auf Knopfdruck herstellen läßt und das Publikum einen Moment benötigt, um wieder »in Stimmung« zu kommen. (Und etliche Handys auszustellen!)
Schumanns Arabeske spannte Lang Lang weit auf, überhöhte ihre Effekte und zog langsame Passagen stark in die Länge – müßte ein Rankenornament, das ja nicht nur schmückt, sondern eine tragende Funktion hat, nicht schwungvoller sein?
Die Art des Herangehens, eine extreme Tempowahl bzw. -gegensätze, geschärfte Kontraste, weitschweifiges Mäandern, auf das sich Variationen mit aberwitziger Rasanz anschließen, prägte auch Johann Sebastian Bachs Meisterwerk. Dabei stehen Lang Lang uneingeschränkt pianistische Möglichkeiten offen – technisch beherrscht er sein Instrument perfekt. Gerade im Temperament »mittlere« Variationen, vor allem wenn sie ins Tänzerische reichten (Variation Nr. VII, XX, XXVIII), gelangen ihm schwungvoll bis zauberhaft. Schon die erste ließ nach einer arg gedehnten Aria den Flügel perlen, in manchen Variationen (III, XXII) fand Lang Lang subtile Schattierungen wie in den Werken Schumanns. Immer wieder aber dehnte er die langsamen Teile übermäßig, bis ihm einmal (XV) der Melodiefaden riß. Dann wieder überraschte er mit Brechungen, die nach einer ruhigen Variation wie mit Donnerschlag neu ansetzten (XV / XVI). Vor allem, wenn er dabei mit dem Fuß stampfte, bekam eine Variation »a 2 Clav.« (XXIII) mitunter einen alla-marcia-Charakter. In den rasanten Tempi (VI) verblüfft Lang Lang zwar mit sportiver Virtuosität, nur verschwammen leider – obwohl der Pianist auf Pedaleinsatz verzichtete – sämtliche Konturen.
Abgesehen von Gefallen und Geschmack fehlte daher eine tiefere innere Bindung, zumindest, wenn man den Maßstab ausgewiesener Bach-Exegeten anlegen wollte. Doch manchmal, wie in den Variationen XXVIII bis XXX, aus denen er eine fast plastische Trias formte, gelang dem Pianisten die Bindung außerordentlich.
Was aber setzt man den Gästen als Zugabe vor, wenn es das Dessert schon zu Anfang gab? Lang Lang entschied sich – zum Lachen des Publikums – für Beethoven (der war 1796 ja auch einmal in Leipzig zu Gast) und »Für Elise«. Dabei hieß die gar nicht so – der Leipziger (!) Verleger hatte der Bagatelle wegen Beethovens unleserlicher Handschrift den falschen Namen verpaßt!
4. Oktober 2021, Wolfram Quellmalz
