Wiederweihejubiläum an der Dresdner Annenkirche
Manchmal wäre es schön, vergleichen zu können: am 2. Dezember vor siebzig Jahren wurde in der Annenkirche zu Dresden, in die nach dem Krieg lange Ruhe eingekehrt war, die von der Dresdner Firma Jehmlich neu aufgebaute Orgel wiedergeweiht. Kreuzorganist Herbert Collum spielte ein Programm, das am vergangenen Sonntag anläßlich dieses Jubiläums noch einmal, jetzt aber mit dem aktuellen Kreuzorganisten Holger Gehring, erklang. Pandemiebedingt konnte das Weihejubiläum nicht mit einem Konzert wie damals, sondern nur mit einer Orgelvesper begangen werden. Holger Gehring spielte daher nicht alle Stücke vollständig – aus Max Regers zweiter Orgelsonate blieb die Invocation über »Vom Himmel hoch, da komm ich her«, auch aus Herbert Collums eigenen Stücken (damals mit Uraufführung) konnten nur die Veränderungen über ein altes Adventslied (»Es kommt ein Schiff geladen«) erklingen.
Vergleichen können – damals wird nicht nur die Orgel bzw. das Spiel des Organisten anders geklungen haben. Auch der Innenraum der Kirche ist in den letzten Jahren und im Zuge der Restaurierung aufgefrischt worden. Heute leuchtet das Schiff förmlich mit seinen beiden erhabenen Engeln über dem Altar. Eines ist aber ganz sicher gleichgeblieben: Akustisch war und ist die Annenkirche unübertroffen. Und so konnten sich mit Pfarrerin Mechthild Hinz die Besucher über das Glück freuen, daß hier immer wieder Musik erklingt. Wesentliche Triebfeder ist dabei Kantor Günter Seidel, der an diesem Tag beim Registrieren half.
Das Programm war der Zeit entsprechend (auch der 2. Dezember 1951 war ein Adventssonntag) ein adventliches. Schon Johann Sebastian Bachs Passacaglia c-Moll (BWV 582) schien einen Wie-schön-leuchtet-der-Morgenstern-Gestus zu bergen. Nur die berühmte Toccata und Fuga d-Moll (BWV 565) war und ist – losgelöst von der Zeit sozusagen – als Schlußstück damals wie heute ein Prunkstück für Organist und Orgel.
Ganz dem Advent zugewandt zeigten sich die dazwischen eingefügten Werke, welche drei Jahrhunderte umspannten. Herbert Collum (20.) und Max Reger (19.) hatten sich dabei, ihren Lebensdaten gemäß, sogar noch »die Hand reichen« können. Der damalige Kreuzkantor hatte sich in seinen »Veränderungen« (Variationen) über »Es kommt ein Schiff geladen«, einem der ältesten Adventslieder genähert, dabei in teils fremder Harmonik und Tonalität überrascht. Das schien gleichzeitig verbindlich, bedenkt man die Herkunft und Bezug von Text und Melodie (Elsaß, Bethlehem). Die überbrachte Herkunft und Collums Modernität schienen nach wie vor unverbraucht und frisch.
Die Orgel als Gestaltungsmittel war in Max Regers Invocation über »Vom Himmel hoch, da komm ich her« deutlich. Wie von ferne kommend, herabsinkend begann es, barg deutlich ein Erwachen (Invocation = Aufruf). Holger Gehring arbeitete die Vielschichtigkeit, die Ebenen von Himmel und Stimme fein heraus. Auch Regers Benedictus liegt ursprünglich ein gesungener Text zugrunde – die Orgel kann nicht nur ein ganzes Orchester ersetzen, sie vermag auch, Chor und Sängern nahezukommen. Möge sie noch lange klingen!
6. Dezember 2021, Wolfram Quellmalz