Kreuzorganist Holger Gehring im Dresdner Orgelzyklus
Es sind nicht allein die großen Jubiläen, die man feiern sollte – es gilt auch zu sehen, wer da außer den berühmten Namen noch alles war und schuf, einst vielleicht besonders verehrt, heute (fast) vergessen. Selbst wenn man Musik in bezug auf das Instrument einschränkt und die Orgel herausgreift, hat 2022 außer dem 200. Geburtstag von César Franck, welcher dem diesjährigen Dresdner Orgelzyklus ein besonderes Thema aufprägt, weit mehr zu bieten.

Da Kreuzorganist Holger Gehring diesmal keinen Gastorganisten zu Besuch hatte, sondern selbst spielte, sich beim »Gespräch unter der Stehlampe« vor dem gestrigen Konzert aber nicht mit sich allein unterhalten wollte, war KMD i. R. Christian Thiele [bei uns schon mehrfach als aktiver Musiker und Leiter in den NMB, unter anderem mit dem Orchester des Mozart-Vereins Dresden e. V.] eingeladen, denn der wußte einiges zu Camillo Schumann (1872 bis 1946) zu sagen. Schließlich hatte er sich nicht allein mit der Musikerfamilie Schumann (in diesem Falle aber nicht Robert, sondern eine andere Familie Schumann mit den Brüdern Georg, Alfred und Clemens sowie weiteren) befaßt, sondern auch Gelegenheit gehabt, ins Königsteiner Musikarchiv »einzutauchen«, wo neben Werken Camillo Schumanns noch solche von Gottfried August Homilius lager[te]n. (Heute sind viele der Werke im Stadtarchiv Dresden zu finden.)
Nicolas de Grigny (1672-1703), dessen 350. Geburtstag wir also begehen, war zu Lebzeiten hoch geschätzt und von größter Wichtigkeit. Nur sein früher Tod hat wohl verhindert, daß er ein reichhaltiges Œuvre hinterlassen konnte. Schon seine Werke für Orgel zeugen von de Grignys Meisterschaft und erklingen vor allem zu festlichen Anlässen, nicht zuletzt in der Weihnachtszeit. Mit dem Hymnus »Pange lingua« gab Holger Gehring einen interessanten Einblick in das Premier Livre d’Orgue. Beeindruckend war schon hier die schimmernde Stimmung und die eingewobenen Lied- (oder liedähnlichen) Themen – beide sollte sich im gleichen Konzert in Jahrhunderte später geschriebenen Stücken wiederholen.
Johann Kuhnaus (1660-1722, 300. Todestag) Praeludium et Fuga B-Dur schien darauf um einiges prächtiger (im barocken Sinn), weniger auf eine Stimmung bedacht und überraschte mit im Verhältnis knapper Fuge. Auch Johannes Brahms (1833-1897, 125. Todestag) hatte sich äußerst kunstvoll mit Präludium und Fuge beschäftigt (g-Moll, WoO 10). Holger Gehring verlieh ihm eine freie, fast improvisatorische Note.
Der so unbekannte Camillo Schumann (1872-1946, 150. Geburtstag) war gleich mit zwei Werken vertreten: einer Choralfantasie über »Jesus meine Zuversicht« (Opus 8, Nr. 1) folgte der erste Satz Allegro ma non troppo aus der Sonate Nr. 3 in c-Moll. Und es zeigte sich, daß man hier vieles entdecken kann, gerade in der Sonate. Sie enthält einerseits Liedthemen (oder eines), vielleicht ähnlich wie Mendelssohn sie in seinen Orgelsonaten verwendet hat, verblüfft aber mit der Vielzahl kleiner, eng verwobener Teile bis hin zur Fuge. Wer sich daran erfreut hat, der sollte sich den Donnerstagnachmittag kommender Woche vormerken, denn dann gibt es Satz Nr. 3 der Sonate im Rahmen von Orgel Punkt Drei (Hinweis unten).
Zum Abschluß durfte die Jehmlich-Orgel der Kreuzkirche aber noch einmal sinfonisch aufbrausen, rauschen, leuchten und fluten, womit nach dem Beginn im Barock auch ganz nebenbei die Vielseitigkeit des Instruments wieder einmal unter Beweis gestellt war: Mit Ralph Vaughan Williams‘ (1872-1958, 150. Geburtstag) Three Preludes founded on Welsh Hymn Tunes sowieCésar Francks (1822-1890) Choral Nr. 1 E-Dur gab es zwei zunehmend orchestrale Werke, nachdem Holger Gehring zuvor auch die rezitativische Seite seiner Orgel klangvoll dargestellt hatte. Ralph Vaughan Williams zeigte sich in seinen drei Stücken von der gesanglichen, volkstümlichen Seite, wobei die Welsh Hymn Tunes manchmal (Pardon, das ist nicht despektierlich gemeint!) an Shantys erinnerten, während César Franck hier natürlich für einen großen Schlußpunkt der Orgelsinfonik sorgte.
22. September 2022, Wolfram Quellmalz
An den nächsten Mittwochabenden kehrt der Dresdner Orgelzyklus in die Frauenkirche (Frauenkirchenorganist Samuel Kummer, 28. September), und die Hofkirche (5. Oktober, Christoph Schoener / Hamburg) ein, bevor er eine Woche später wieder in der Kreuzkirche zu Gast ist (12. Oktober, Silvius von Kessel / Erfurt).
Am kommenden Donnerstag spielt KMD i. R. Christian Thiele im Rahmen von Orgel Plus Drei (29. September, 15:00 Uhr) in der Kreuzkirche unter anderem aus der Orgelsonate von Camilo Schumann.
Das Programm des gestrigen Konzertes incl. eines Videos mit Kay Johannsen (Brahms) finden Sie hier:
https://www.kreuzkirche-dresden.de/veranstaltungen/veranstaltung/dresdner-orgelzyklus-75.html