Sächsische Staatskapelle präsentiert dramatische Neunte
Manche hatten angesichts der Vorberichterstattung schlimmeres geahnt, weil das ZDF aus der Generalprobe eine farbig ausgeleuchtete Semperoper zeigte. Jedoch: so schlimm war es gar nicht, im Gegenteil. Anders als zu den Programmen mit Operettenschlagern und Filmmusik in den letzten Jahren entschied sich der Sender diesmal für eine sanftere Chromatik, blassere Farben. Überhaupt war schon bald alles vom Drumherum vergessen, incl. der Aufforderung, für die Fernsehübertragung »das schönste Beethoven-Gesicht« aufzusetzen. (Das hätte auch schiefgehen können, oder was ist das »schönste Beethoven-Gesicht«? Vom Komponisten gibt es manche Bildnisse, auf denen er eher düster dreinschaut …)

Die musikalische Farbigkeit war entscheidend: Silvesterkonzert der Sächsischen Staatskapelle Dresden mit Christian Thielemann, Photo: Sächsische Staatskapelle Dresden, © Matthias Creutziger
An diesem Donnerstagabend zählte nur eines: Beethovens neunte Sinfonie, und die geriet umwerfend. Oder frappierend. Denn in Zeiten wie diesen kann man sich weder die »Ode an die Freude« noch das ganze Werk losgelöst denken, als hätten sie keinen Bezug zu uns – sie haben einen! Hinzu kommt, daß sich auch die Interpretation von Chefdirigent Christian Thielemann weiterentwickelt. Hochinteressant war zu erleben, wie anders sie ist im Vergleich zum September des Vorjahres. Natürlich nicht »komplett anders«, Christian Thielemann widersprach nicht der früheren Auffassung, und es bleibt schwer zu sagen (oder ist nicht angebracht zu deuten), wieviel Weiterentwicklung, was vom Impuls der Zeit beeinflußt war.
Mehr noch als zuletzt war dieser Beethoven ein fordernder, kämpferischer. Keine schöne, feststellende Ode, fast schon ein Schrei. Verblüffend, wie differenziert das Orchester trotzdem blieb. Christian Thielemann präsentierte die Staatskapelle quasi als vielstimmigen Chor. Schon der erste Satz war von einem Hört-her-Gestus geprägt, als wolle er auf den Text des letzten bereits hinweisen. Dieser Zusammenschluß führte jedoch nicht in ein kraftvolles Crescendo, sondern behielt einzelne Stimmen hörbar eingeschlossen, einen Beethoven-Impetus, der sich von den Hörnern auf die Fagotte, die Oboen übertrug …
Der zweite Satz, ein Molto vivace, gelang federnd und geschmeidig, das Flötenensemble (Sabine Kittel / Solo, Dóra Varga-Andert und Eszter Simon) bildete einen Chor im Chor, während der dritte Satz, sich vom Adagio zum Andante wandelnd, wie ein Traumgespinst zwischen Fagott (Philipp Zeller) und Klarinette (Robert Oberaigner) begann – bald schon schien es, also habe Beethoven ein Quartett wie im Fidelio auf das ganze Orchester übertragen und zum Quintett, Sextett … erweitert.
Während man zuletzt auch kammermusikalische Annäherungen hören konnte, blieb der Neunten diesmal eine immanente Kraft eigen, prägte sie, wurde aber nie erdrückend. Mit dem vierten Satz kamen die wirklich gesungenen Stimmen hinzu. Neben dem Sächsischen Staatsopernchor (Einstudierung: André Kellinghaus) bildeten Christa Mayer (Alt), Klaus Florian Vogt (Tenor), Georg Zeppenfeld (Baß) sowie kurzfristig für Hanna-Elisabeth Müller eingesprungene Camilla Nylund (Sopran) ein individuell und kraftvolles Quartett – was für instrumentale Soli bestimmend war, galt hier nicht minder: die Hörbarkeit der einzelnen Stimmen.
Zunächst stürmisch (nicht gehetzt) begonnen, fanden Violoncelli und Kontrabässe zu einem feinen Piano, Oboe (Céline Moinet) und Klarinette beflügelten erregt den Gang der Dinge – Christian Thielemann hielt den Fluß aufrecht, die vom Solistenquartett und vom Chor formulierte »Freude« kommt eben nicht von ungefähr, ist kein Geschenk, sondern Resultat eines bewußten Gestaltungsaktes.
30. Dezember 2022, Wolfram Quellmalz
Das Konzert wurde am Donnerstagabend im ZDF ausgestrahlt und ist weiterhin in der Mediathek verfügbar.