Saisonauftakt in der Semperoper
In jedem Jahr empfängt die Sächsische Staatskapelle am ersten Konzertwochenende einer neuen Spielzeit das Gustav Mahler Jugendorchester. Das Spitzenensemble mit den besten Studenten Europas, auch von den besten Musikhochschulen – sollte es da bedenklich stimmen, wenn ausgerechnet von der hiesigen Hochschule für Musik einzig eine Bratschistin im Orchester saß?
Noch interessanter war jedoch, wer davor stand: Herbert Blomstedt. Der Ehrendirigent der Sächsischen Staatskapelle ist nach wie vor so unermüdlich wie begeistert dabei, Musik zu vermitteln (weshalb sein Buch den entsprechenden Titel trägt) und besucht nicht nur seine Orchester, er geht auch mit ihnen auf Reisen. Neben jenen Klangkörpern, denen er früher in Dresden, Leipzig oder San Francisco vorstand, gehört das GMJO seit vielen Jahren ebenso zu seinen Partnern. Hier freilich hat er es mit einem immer anderen Orchester zu tun, denn erstens ist es kein permanentes wie die anderen, zweitens hat es den größten »Durchlauf«: jene, die heute zu den besten Studenten zählen und im GMJO mitspielen, sind vielleicht morgen schon Solisten oder in einem großen Orchester angestellt.
Selbst wenn sich vorausahnen läßt, daß etwas Besonderes bevorsteht, ist das Erleben bzw. die Erfüllung doch etwas anderes! Und hier sei zunächst wirklich das Orchester erwähnt, selbst wenn das Programm mit Gustav Mahlers »Rückert-Liedern« und keinem geringeren als Christian Gerhaher begann. Schon hier fiel die enorme Klangkultur auf, die Noblesse, mit der das GMJO spielte, feinsinnig und geradezu zart begleitete – unglaublich! Obwohl doch die Bühne mit um die einhundert Musikern (wie oft beim GMJO gerade bei den Violinen vornehmlich Musikerinnen) »voll besetzt« schien. Das ist nicht nur wichtig, um dem Solisten eine Stimmentfaltung und Verständlichkeit zu gewähren, es dient auch der Färbung. Und die – Farbe und Stimmung – ändern sich in den Rückert-Liedern ständig. Einerseits, weil sich die Sujets unterscheiden, andererseits, weil sie umschlagen.
Erst recht, wenn der Solist es so eindrücklich vortragen kann: Christian Gerhaher. Wenn man mit Herbert Blomstedt den Begriff des »Orchestererziehers« verbinden kann, gilt Gerhaher als einer der »Intellektuellen« unter den Sängern. Beides ist hier ausdrücklich positiv gemeint und kein (ab)wertendes Kategorisieren. Denn so wie Blomstedt dem doch vermeintlich unerfahrenen Klangkörper eine Zurückhaltung mit Ausdruckskraft vermittelt hat, kann der Bariton etwas wie »emotionale Verständlichkeit« hervorbringen, also nachgefühlte Gefühle, Erinnerungen, welche die Seele berühren. Und gerade darum geht es doch in den Rückert-Liedern meistens. Gerade darin, in dem Gedenken an zurückliegendes, an liebe, verlorene Menschen und Momente, liegt doch (einer) der Wert(e) dieser Lieder. Und selbst im Rückblick und Bedenken ist klar – nichts ist sicher, nicht einmal die Erinnerung. Tonsprünge machen die Fragilität dessen deutlich, was einmal war oder nicht war – sich an den Erinnerungen festzuhalten, birgt Melancholie und Verzweiflung. Doch der Sänger ist nicht allein. Das Orchester umfaßt in förmlich, Partner wie Oboe oder Englischhorn singen gemeinsam mit ihm oder wechselweise – ein gegenseitiges Zuhören – wunderbar!
Gerhaher spricht dabei durchaus den Intellekt an – einen fühlenden Kopf, der sich der Emotionen wie der Erinnerungen bewußt ist. Und noch im sachten Einsatz eines Vibratos liegt nicht nur Betonung, sondern verknüpfen sich verschiedene Betrachtungs- und Wertungsebenen, wie im Wort »abweisen«. Hier, in dem als Zugabe gebrachten »Urlicht« aus der zweiten Sinfonie, geht es nicht um Ab- oder Ausgrenzung, sondern darum, sich an der Himmelstür nicht abweisen zu lassen – also um (letzte) Hoffnung und Zuversicht!
Nach solch beglückendem Beginn konnte man nach der Pause nur staunen, mehrfach. Erstens angesichts der Orchesteraufstellung und zweitens wenn man hörte, spürte, was diese bezweckte. Ganz sicherlich ging es nicht bloß darum, allen Kontrabassisten die Teilnahme am Konzert zu ermöglichen. Statt acht standen zehn ganz hinten, noch hinter allen Bläsern (!), über die gesamte Bühnenbreite. Solche Aufstellung ist ungewöhnlich und nur in Ausnahmefällen üblich, etwa da, wo die Raumakustik es erfordert (was hier nicht zutraf). Was Herbert Blomstedt wollte, wurde schnell offensichtlich: auf die zarte Kraft von Mahlers Musik folgte die durchdringende Energie Anton Bruckners sechster Sinfonie. Bereits tags zuvor hatten wir im Kulturpalast bei Marek Janowski (Dresdner Philharmonie / achte Sinfonie: https://neuemusikalischeblaetter.wordpress.com/2019/09/01/janowski-der-panther/) erlebt, daß es nicht eine »Wucht« sein muß, die Bruckner hervorruft. Hier nun wurde von der ersten Note unmißverständlich klar: es ist eine Kraft! Und wie Herbert Blomstedt zuvor im Interview sagte, ist beides wichtig: die beeindruckende Erhabenheit wie das feine Detail.
Viele Grade Intensität fand das GMJO in der Komplexität Bruckners, aber auch eine berückende, ja betörende Schönheit! Das zeigte sich im Detail mit bravourösen Solisten, aber ebenso in der Homogenität des Orchesters und der einzelnen Gruppen, die immer wieder zu Chorälen zusammenfanden. Verblüffend war die Bindung der Themen wie der Orchestergruppen, die sich zu durchdringen vermochten und die Themen oder Gegenthemen übergaben – so entsteht Lebendigkeit!
Dabei konnte man im Verlauf noch eine Steigerung erleben. Im Scherzo mit seinem charmant (anti)revoltierenden Trio sorgte Blomstedt federnd für die Freilegung von Akzenten. Vier Generalpausen waren präzise, belebende Einschnitte, die das GMJO zu immer neuen Steigerungen nutzte und schließlich auf ein Plateau führte, von dem das Finale majestätisch strömen konnte.
Ein »Leitwolf« ist Herbert Blomstedt ebenso, auch wenn er diese Qualität nicht so offen oder offensichtlich hervorkehrt. Aber er versteht es, ein Orchester anzuführen und – der einzige Wermutstropfen an diesem Abend – den Applaus zwischen den Sätzen zum Verstummen zu bringen.
2. September 2019, Wolfram Quellmalz
Nach Dresden kehrt Herbert Blomstedt erst im Juli 2020 wieder, aber wir werden versuchen, den einen oder anderem Termin außerhalb zu besuchen, wie in Leipzig, wo er mit dem Gewandhausorchester alle Sinfonien Johannes Brahms‘ aufführen wird.
Unser Interview mit dem Dirigenten erschien am Wochenende in einer gekürzten Fassung vorab in den Dresdner Neuesten Nachrichten. Morgen reichen wir es auf dieser Seite nach. Die Buchrezension zu »Mission Musik« (Henschel / Bärenreiter) finden Sie bei uns in Heft 24, Seite 32: https://neuemusikalischeblaetter.files.wordpress.com/2014/04/nmb-24_3.pdf