Institutionen begehen Jahrestag der Zerstörung der Stadt mit unterschiedlichen Erinnerungsansätzen
Im Haus der Semperoper wurde am Sonntagabend zweifach gedacht: dem traditionellen Gedenkkonzert der Sächsischen Staatskapelle, das diesmal bereits um 19:00 Uhr begann, ging auf Semper Zwei ein Gedenken voran, das auch die dem Krieg vorausgehenden Ereignisse in den Fokus nahm.
Neue Musik Paul Aron
Für den Dresdner Musiker Paul Aron, von Kollegen wie Max Reger und Paul Hindemith geschätzt und gefördert, aber auch Jude und homosexuell, begann 1934 ein beruflicher und sozialer Abstieg. Er emigrierte in die Tschechoslowakei, ging nach Prag, später nach Kuba, und fand schließlich in New York seine endgültige neue Heimat. Doch die Blütezeit seines schöpferischen und unermüdlichen Schaffens waren die 1920er Jahre, als er in der Elbestadt eine weltweit einzigartige Konzertreihe »Neue Musik – Paul Aron« ins Leben gerufen und ausgerichtet hatte. Ernüchternd oder resigniert klingende Zitate Paul Arons darüber, wie seine Neue Musik aufgenommen wurde, sollte man nicht vorschnell einem Klischee zuordnen – immerhin gab es die Reihe mit über 50 Konzerten und mehr als 200, erstmalig aufgeführten Werken.
Der Paul-Aron-Abend hatte in dieser Form schon einmal im September stattgefunden. Nur die Besetzung (Menna Cazel / Sopran, Lucie Ceralová / Mezzosopran, Mateusz Hoedt / Baß, Lukas Stepp / Violine sowie Johannes Wulff-Woesten / Klavier und Musikalische Leitung) hatte leicht variiert. Vor allem konnte diesmal die im Herbst verhinderte Dr. Agata Schindler teilnehmen. Sie hatte mit ihrem unermüdlichen Recherchieren und Arbeiten dafür gesorgt, daß in den letzten Jahren sämtliche (!) Lieder Paul Arons in Dresden uraufgeführt wurden. Das ist um so wertvoller, da Aufnahmen Paul Arons, die nach dem Krieg beim Südwestfunk entstanden waren, verlorengegangen sind, der Verbleib weiterer, privat in New York aufgezeichneter Beiträge ist unbekannt. Weiterhin erklangen auf Semper Zwei Werke von Kollegen wie Louis Gruenberg und Mischa Spoliansky und kündeten von einer aufgeschlossenen und doch auch frohen Zeit.
Anton Bruckners letzte Sinfonie
Statt eines Requiems hatten Chefdirigent Christian Thielemann und die Sächsische Staatskapelle Dresden Anton Bruckners letzte Sinfonie auf das Programm ihres Gedenkkonzertes gesetzt. Die neunte blieb allerdings unvollendet, diversen Versuchen, sie zu vervollständigen oder zu »rekonstruieren«, darf man skeptisch gegenüberstehen. Christian Thielemann entschied sich für eine Aufführung, die an den langsamen dritten Satz Bruckners Te Deum anschließt – der Komponist selbst hatte eine solche Praxis vorgeschlagen.
Schier unglaublich ist, was das Orchester – auch mit einem Gast (Dragos Manza) am Konzertmeisterpult – aus den Motiven und Verzahnungen zutage fördert. Hier fand, gerade in den ersten beiden Sätzen, eine Lehrstunde statt, wie Stimmungen entstehen, wie sich Bindungen verdichten oder auflösen. Aus der noch unklaren Dämmerung erhob sich der feierliche erste Satz kraftvoll, schärften die Violinen klare Umrisse, während die Holzbläser glitzernde Wassertropfen in diese Landschaft fallen zu lassen schienen. Im zweiten Satz nahm diese Konturierung sogar noch zu – oft mit kleinen Gesten lotste Christian Thielemann das Orchester durch die Partitur. Freilich formt er allzugern aus, geht ins Extreme. Der Adagio-Satz geriete arg weihevoll und langsam, ließ die sorgsam aufgebaute Spannung reißen.
Im Te Deum blieb Christian Thielemann dabei, extreme Schraffierungen umzusetzen. Das sorgte einerseits für unglaubliche Momente, auch kleine, als etwa die Bässe des Chores dem Solisten (Franz-Josef Selig) einen schattigen Widerhall gaben, derart in Grenzbereiche geführt klang der Sächsische Staatsopernchor (Einstudierung: André Kellinghaus) jedoch zuweilen angestrengt, im Finale mischte sich eine unschöne Schärfe bei.
Im Solistenquartett (außerdem Camilla Nylund / Sopran und Elena Zhidkova / Alt) fiel vor allem Tenor Benjamin Bruns ausnehmend auf, der die Partie kurzfristig von Saimir Pirgu übernommen hatte und sie fast mühelos und mit großer Gestaltungskraft ausfüllte.
14. Februar 2022, Wolfram Quellmalz