Sächsische Staatskapelle vollführt im Sinfoniekonzert einen Zeitsprung
Der Zeitsprung führte – verständlicherweise – in die Vergangenheit, doch »zurück« will man da gar nicht sagen, schließlich ist weder »rückwärtsgewandt« noch »Rückschritt« gemeint. Vielmehr handelt es sich um das 18. Jahrhundert, eine der wichtigsten, blütenreichsten und erstaunlichsten Epochen der Musikgeschichte. Johann Adolf Hasse, Johann David Heinichen (dessen Geburtstag wir heute feiern) oder Johann Georg Pisendel gehörten zu den Personen, welche die damalige Kapelle, ihren Charakter und ihre Qualität und damit ihren Ruf, prägten. Der Ruf galt europa-, wenn nicht weltweit, und erreichte unter anderem Antonio Vivaldi. Mit Pisendel persönlich bekannt (beide waren sich in Venedig begegnet), widmete er dem Freund und »per l‘orchesra di Dresda« (dem Orchester) einige Werke.
Auch Johann Sebastian Bach hatte die Sächsische Hofkapelle »im Auge« (vielmehr »im Ohr«, müßte man wohl sagen), doch bekam er die gewünschte Stelle als Hofcompositeur nicht. Immerhin durfte er sich ab 1736 »königlich polnischer und kurfürstlich sächsischer Compositeur bey Dero Hoff-Capelle« nennen. Vermutlich bereits zwanzig Jahre zuvor hatte sich Bach intensiv mit Werken französischer wie italienischer Komponisten vertraut gemacht. Anders als viele seiner Kollegen reiste er nicht ins Ausland, das Studium der Noten versetzte ihn aber in die Lage, »im Stile« zu schreiben. So wie im Fall der Orchestersuite Nr. 4 D-Dur (BWV 1069), welche in Form und Anlage ebenso französische wie italienische Vorbilder aufgreift. Natürlich hat Bach ein Original geschrieben, das gestern (3. Aufführung) noch einmal von Musikern der Sächsischen Staatskapelle unter der Leitung von Ton Koopman gespielt wurde. Wohlgemerkt: die »aktuelle Prägung« erhielt das Orchester wesentlich später, zum Kernrepertoire gehören heute Weber, Wagner und Strauss, ein »Originalklangensemble« ist die Kapelle keineswegs und will es auch nicht sein. Sie spielt auf Stahlsaiten und mit modernen Bläsern, zu denen sich dennoch ein Cembalo hinzugesellen darf.
Einen »originalen Klang« suchte Ton Koopman also sicher nicht, aber wohl einen Lebensfaden, einen Charakter, Ausdruck und Farben. Und dies gelang ihm, selbst wenn man sagen kann, daß das meiste (viel) zu schnell war. Wer auf die Uhr geschaut hätte, würde vielleicht einen Aufführungsrekord festgestellt haben – nur: Wer schaut denn bitte im Konzert auf die Uhr! Dafür war das, was sich hier abspielte, viel zu faszinierend! Denn obwohl Koopmann schon in eigentlich luftigen Bourrée-Sätzen ein etwas ungestümes Tempo wählte, führte dies zu keinem Überschlag im Klang. Noch frappierender war, wie fein ziseliert dies alles ausgeführt wurde!!! Nein, so wäre das anno 1715 sicher nicht möglich gewesen.
Es war wohl besser, das Metronom im Kopf abzustellen, als sich an Maßzahlen zu reiben. Denn nach Klang, Charakter, Farbe oder Ausdruck gab es viel zu erleben, wie schon den majestätischen Beginn der Suite. Sie schloß mit dem Feuerwerk der Réjouissance – die belebende Luftigkeit ging Koopman allerdings ab, so viel Funkenstieben wäre nicht nötig gewesen.
Es ging aber auch gelassener, wie Joseph Haydns Sinfonia concertante B-Dur (Hob. I:105) bewies. Hier trat nun noch ein superbes Solistenquartett in den Vordergrund: Matthias Wollong (Violine) hatte dafür das Konzertmeisterpult verlassen, Céline Moinet (Oboe), Thomas Eberhardt (Fagott) und Norbert Anger (Violoncello) bildeten mit ihm den Halbkreis um den Dirigenten – so ein feines Quartett erlebt man selten! Schönheit im Detail konnte man diese Stimmen nennen, die mühelos schienen, aber auch zu ergötzlichen Paarungen untereinander fanden, sich kreuzten, aber niemals widersprachen. Der zweite Satz war eine intime Plauderei, welcher das Orchester den sanften Hall satter Pizzicati spendierte, bevor es sich wieder – wohlgestaltet – einmischte. Im Allegro con spirito zündete Ton Koopmann erneut Raketen – zweite Runde.
Nach der Pause gab es davon mehr, nun mit dem eingangs erwähnten Concertos »per l‘orchesra di Dresda« vonAntonio Vivaldi (g-Moll, RV 577). Die hohen Streicher spielten nun stehend, die solistisch der Violine gegenüberstehende Oboe hatte Rafael Sousa übernommen, der gesangliche virtuose Kunst mit Noblesse zu verbinden wußte. Dennoch war Vivaldis Concerto jenes Werk des Abends, bei dem sich die Tempi merklich drängend und »forciert« auswirkten. Die gewohnte Leichtigkeit des Venezianers vermißte man daher.
Für Leichtigkeit war Georg Friedrich Händels »Feuerwerksmusik« (Suite D-Dur, HWV 351) gar nicht gedacht. Ursprünglich verzichtete der Komponist gar (auf Wunsch des Königs Georg II. und für den Anlaß der Uraufführung) auf die Streicher, heute wird jedoch meist die spätere Fassung gespielt, so auch gestern. Wer wollte auch auf diese Streicher verzichten? Wiederum gab es darin Soli, wie Norbert Angers, der nun ans Konzertmeisterpult der Celli zurückgewechselt war. Obwohl man gar nicht müde werden darf zu betonen, wie dicht verwoben die Stimmen des Orchesters sind – »Tutti« sind keine »bei-« oder »untergeordneten« Musiker, sie verfügen, wie man wieder hören durfte, über eine exzellente Qualität! Herrlich, wie die Blechbläsergruppe erneut von hinten Widerhall gab oder – ganz präsent – den majestätischen Glanz aufpolierte. Insofern schloß sich mit dem letzten Feuerwerk des Abends jener Kreis, der mit der Ouverture von Bachs Suite begonnen hatte. Ein wenig baden durfte in diesem Glanz der Blechbläser noch der langjährige Solohornist der Sächsischen Staatskapelle Erich Markwart, der mit diesem Konzert in den Ruhestand verabschiedet wurde. Ob Kapellmusiker so etwas können, »Ruhestand«, darf man sich gerne fragen.
Dem Feuerwerk sandte Ton Koopman als Zugabe noch einmal Händels La Réjouissance nach. Wenn er sich das nächste Mal einfach etwas mehr Zeit ließe, würde es noch schöner!
27. April 2022, Wolfram Quellmalz
Vor dem nächsten Sinfoniekonzert mit Christian Thielemann (21. / 22. Mai) gibt es bei der Sächsischen Staatskapelle gleich drei Kammermusiken zu erleben: einen Kammerabend mit Werken für Streicher und Bläser von Albert Roussel, Charles Koechlin, Francis Poulenc und Franz Lachner (5. Mai), in einem Aufführungsabend (11. Mai) wird Gaetano d’Espinosa Werke von Edward Elgar, Jörg Herchet und Georges Bizet dirigieren (Solisten: KS Christa Mayer / Alt und Reinhard Krauß / Violine), am 15. Mai kehrt der aktuelle Capell-Virtuos Antoine Tamestit noch einmal zurück und ist mit dem Pianisten Cédric Tiberghien zu erleben. Weitere Informationen unter: http://www.staatskapelle-dresden.de