Lucas Debargue zu Gast beim Lausitz Festival in Bad Muskau
Das Fürst-Pückler-Schloß mit dem umgebenden Park in Bad Muskau wäre allein schon eine Reise wert. Der Auftritt des Pianisten Lucas Debargue gestern rechtfertigte auf lohnende Weise die Anfahrt (und späte Rückkehr) von außerhalb – wie nur wenige andere Pianisten versteht es der Franzose, aus einem Klavierkonzert einen besonderen Abend zu machen. Denn er ist über den »Denker«, als den ihn Intendant Daniel Kühnel vorstellte, hinaus ein bereits (trotz seiner noch jungen Jahre) geschickter, offener und umsichtiger Gestalter, welcher den Werken einen besonderen Rahmen, fast möchte man sagen eine neue »Dimension« einräumt, der Bezüge offenlegt und spannungsvolle Brücken (auf)schlagen kann.

Und einer, der sich traut, Mozart zu spielen. Während sich viele Pianisten eher den effektvolleren späteren Klavierkonzerten zuwenden und die harmlos-schwierigen Sonaten auslassen, setzte Lucas Debargue gerade eine solche an den Beginn seines Programms – a-Moll, KV 310, jenes berühmte Werk, das Mozart während einer Reise in Paris schrieb – kurz zuvor war die Mutter gestorben. Mozarts Sonaten vertragen eine Übersteigerung nicht. Dort, wo Beethoven manchen pianistischen Übermut »wegsteckt«, würde bei Mozart die Substanz angegriffen – wohl deshalb hört man seine Solowerke nur von solchen Experten. Beeindruckend, berückend und bezaubernd war, daß Lucas Debargue dem Werk keinen »Stempel« aufprägte, ihm die Freiheit ließ, dabei aber trotzdem mit variablen Tempi für eine individuelle Gestaltung sorgte. Und er mag es beherzt, wurde gleich mit den kurzen Vorschlägen deutlich, mit welchen der erste Satz beginnt. Lucas Debargue schärfte nicht allein die Konturen zwischen Aufbäumen und Verzweiflung, welche sich im Notentext finden, er suchte auch nach einem Klang, forschte den Raum aus. So gelang ihm eine geschlossene Darstellung, die alle Widersprüche vereinte, den zweiten Satz innig beließ, ohne die latente Lebhaftigkeit zu verweigern. Im Presto steigerte der Pianist dies dramatisch teilweise in einen Erlkönig-Gestus.
Der Bezug zu Frédéric Chopin ergab sich beim Hören wie von selbst, geradezu logisch – die zweite Ballade scheint dort anzuknüpfen, wo Mozart im zweiten Satz, durchaus »plaudernd«, vielleicht ein Portrait der Mutter zeichnete. Der Aufruhr folgte auch hier alsbald, jedoch genau artikuliert. Nichts, schien es, zielte bei Lucas Debargue auf einen Effekt, jeder Note, jeder Rückung, verlieh er einen Sinn.

Chopins Prélude cis-Moll Opus 45 fehlt die geschlossene Form ebensowenig, es schien schwebend und sorgte für eine Beruhigung, bevor sich in der Polonaise-Fantasie As-Dur Opus 61 vor der Pause noch einmal zeigte, wie groß Debargues gestalterische Weite reicht: von tiefer (gedanklicher) Entspannung über beschwingtes »Aufwärts« führte sie auf Gipfel höchster Erregung. Alles schien im Moment geboren, auf den Flügel und für den Raum bemessen – es dürfte spannend sein, Lucas Debargue mit den gleichen Stücken einmal in einem anderen Konzert zu erleben und es steht zu vermuten, daß seine Gestaltung so individuell ist, daß zwei Aufführungen desselben Werkes nicht identisch sind (ohne daß sie sich widersprächen).
Wer solches vorzuzeigen wagt, muß offen sein, bereit, Risiken einzugehen. Die Offenheit beginnt beim Instrument. Zwar stand dort ein Steinway & Sons, Modell D, aber zunächst schenkte der Rezensent dem »Werkzeug« wenig Beachtung, obwohl auffiel, daß es schon anders aussah – matt schimmerte die Oberfläche des Rahmens, zeigte Holzmaserung statt spiegelnden Lacks. Der Flügel klang auch anders, zumindest ein wenig – genau solche Feinheiten sind es, die zählen. Intendant Daniel Kühnel gab in der Pause Auskunft: der gewohnte Standard sei dies nicht, sondern eines der Klaviere aus der Klangmanufaktur, der Konzertflügel Werkstatt Hamburg. Dort arbeiten ein paar Begeisterte (oder »Verrückte«) die Flügel auf, entfernen, was nicht nötig ist, befreien den Resonanzboden, tragen nicht neuen Polyester auf (daher die sichtbare Holzmaserung) – ganz auf der Suche nach dem Klang. Dieser verändert sich, nicht grundlegend, wird aber kräftiger in den hellen Tönen, erlaubt mehr Schärfe – passend für einen, der solchen Gestaltungswillen und -mut hat wie Lucas Debargue.
Maurice Ravel Gaspard de la Nuit, sonst eher ein »Nebenstück« im Rezital, wurde auf diese Weise zum Höhepunkt, denn über das irisierende Wasser- und Farbspiel hinaus fand Lucas Debargue balladeske Erzählstücke, die Weite, Raum, Tiefe hatten. Undine stellte der flüchtigen Schönheit von Wasserfontainen eine körperhafte Form gegenüber. Das Wasser konnte fein rieseln oder kräftig fluten. Im Galgen brach der Pianist die Trostlosigkeit der ostinaten Figur rhythmisch auf, bevor Der listige Kobold bedrohlich näherzukommen schien.
Selten erlebt man, wie dynamische Stufungen und Modulationen so gekonnt ihren theoretischen Wert verlieren und in den Sinn einer Sache (oder der Erzählung einer Geschichte) gestellt werden. So wuchs auch Franz Liszts an sich unmäßiges, komplexes Après une lecture du Dante – Fantasia quasi Sonata zu einer Darstellung ambivalenter Welten, die sinnliche Träumereien und vordringlichen Marsch verbanden.
Mit zwei Sonaten Domenico Scarlattis sagte Lucas Debargue dem Publikum »au revoir« – hoffentlich nur vorübergehend!
Noch bis zum Freitag empfängt das Lausitz Festival seine Gäste. Mehr unter: http://www.lausitz-festival.eu/de/

CD-Tip: Domenico Scarlatti »Klaviersonaten«, Lucas Debargue (Klavier), 4 CDs, erschienen bei Sony