Konzert mit Olivier Latry im Dresdner Kulturpalast
Ein großer Coup war der Dresdner Philharmonie mit der Verpflichtung Olivier Latrys als »Palastorganisten« für die erste Spielzeit mit dem neuen Eule-Instrument im umgebauten Konzertsaal gelungen. Diese Residenz endete nun nicht mit dem zum Dresdner Orgelzyklus zählenden Konzert am Mittwochabend, sondern wird in der kommenden Spielzeit fortgesetzt. (Da wäre es noch schöner gewesen, hätte man dem Titularorganisten von Notre Dame de Paris bzw. seinem hiesigen Amt auch einen entsprechenden Namen gegeben. Viele Musikfreunde sprechen nicht von »Kulturpalast«, erst recht nicht von »Kulti«, sondern schlicht von »die Philharmonie«, wenn sie das Gebäude meinen.)
Abschiedsstimmung kam also nicht auf, obwohl diese in einem ganz anderen Zusammenhang berechtigt gewesen wäre: die Stücke, die Olivier Latry aufs Programm gesetzt hatte, waren allesamt letzte Werke (wenn nicht gar das letzte Werk) des jeweiligen Komponisten gewesen, im Todesjahr bzw. den letzten Schaffensmonaten entstanden.
Das Interesse war immens – bis in die obersten Reihen, bis auf Orgel- und Chorempore war der Saal besetzt und dürfte beinahe ausverkauft gewesen sein – sehr ungewöhnlich für ein Orgelkonzert. Das freut natürlich, allerdings war die Unruhe im Publikum durch Husten und falsch plazierten Applaus auch nicht unbeträchtlich.
Mit Johann Sebastian Bachs Orgelchoral »Vor deinen Thron tret ich hiermit« (BWV 668) und drei Choralvorspielen Johannes Brahms‘ erklangen Werke mit einem dezidiert liturgischen Bezug einmal nicht in der Kirche. Für manchen ergab sich damit vielleicht eine Abweichung zwischen Musik (bzw. Inhalt) und Bild (Konzertsaal und Organist auf dem Podium), doch war Latrys Spiel so einnehmend, daß diese Kluft nicht störend spürbar war. Im Gegenteil – Augen schließen und genießen oder nachsinnen, dazu lädt das Spiel des Franzosen unmittelbar ein. Man glaubte sich zunächst (Bach) in eine kleine Kirche versetzt, denn der Organist hatte Bachs Choralbearbeitung, welche die Schlichtheit betont, auch schlicht registriert und so den inneren Kern (Text) betont.
Da erschien die anschließende Orgelphantasie Wolfgang Amadé Mozarts im direkten Vergleich zunächst laut. Solche Kontrasteffekte waren jedoch offensichtlich beabsichtigt, wie sich noch zeigen sollte. Ganz offensichtlich hatte der Organist Freude, das vermeintlich kleine Stück (für einen Spielautomaten) auf das große Instrument auch »groß« zu übertragen – ganz so, wie es der Komponist vermutlich gewünscht hätte (es gibt Aussagen Mozarts, die man so interpretieren kann) und offenbarte damit eine Freude nicht nur am Spiel, sondern ebenso am Instrument. Den ausdrucksstarken Modulationen stellte Olivier Latry ein feines Variationswerk im Mittelteil gegenüber.
Johannes Brahms hat in seinen »Elf Choralvorspielen« am Ende seines Lebens noch einmal zu einer vertieften Auseinandersetzung mit musikalischen Strukturen gefunden. Sein Opus 122 ist der letzte Eintrag in seinem Werkkatalog und erschien nach Brahms‘ Tod. Wenn schon Bach in seinen Bearbeitungen weit über das übliche Choralvorspiel hinausgegangen war, ging Brahms hier noch einen Schritt (oder mehrere) weiter. Denn er hüllte die überlieferten Melodien nicht schlicht in ein romantisches Gewand, sondern umspielte, dekonstruierte und konstruierte die Themen. Diese feingliedrige Arbeit schuf Olivier Latry auf der prachtvollen Orgel nach, so daß sich die Zuhörer in den innigen Bespiegelungen ebenso verlieren konnten wie der mächtigen Emotionalität mancher Passagen – die ursprüngliche Choralmelodie hatte Brahms teilweise beinahe »versteckt«. Wer entsprechend der Programmfolge also bei »Es ist ein Ros entsprungen« eine Weihnachtsweise erwartete, erlebte genau dies nicht.
Als vorläufiger Abschluß (Olivier Latry kehrt im Januar kommenden Jahres in den Kulturpalast zurück) stand César Francks »Drei Choräle für große Orgel« am Ende des Konzertes – ein Werk, das ureigenst für so ein Instrument und so einen Organisten geschrieben scheint. Es wird auch nicht einfach gespielt, es wird aufgeführt, ergreift, reißt mit, ist schlicht beeindruckend.
Hier zeigte sich nun die sinfonische Qualität der Orgel, die nicht nur über Farbnuancen, sondern reiche Klangpalletten verfügt. Ihre orchestrale Wandlungsfähigkeit und Klangfülle offenbarte Olivier Latry spielend. Virtuos beherrschte er Schwellwerk und Flötenregister, singende Melodie und stimmungsvolle Begleitbässe, ließ sich feine Motive über mächtige Bässe erheben. Franck hat in seinem Orgelwerk sinfonische Bilder geschaffen, wie sie Franz Liszt auf dem Klavier verwirklichte oder mit dem Orchester – kein unstimmiger Vergleich. Auffällig war die Kontrastschärfe, die Latry immer wieder erreichte, die aber bruchlos blieb. Ein wenig dem Beeindruckt sein diente sie aber wohl – warum auch nicht?
Als Zugabe fand Olivier Latry noch einmal zu Bach und den Choralbearbeitungen (»Nun danket alle Gott«) zurück.
10. Mai 2018, Wolfram Quellmalz
Der Dresdner Orgelzyklus wird am kommenden Mittwoch, dem 16. Mai, fortgesetzt. Silvius von Kessel spielt dann unter dem Titel » Pas de deux – Deutsch-französisches Gottesduett« Werke von Johann Sebastian Bach, Charles Marie Widor und Olivier Messiaen in der Dresdner Frauenkirche.
Das nächste Konzert mit der Orgel des Kulturpalastes findet am 3. Juni (Sonntag), 18:00 Uhr statt. Neben dem Adagio aus Gustav Mahlers zehnter Sinfonie erklingt dann das »Requiem für Syrien« von Georg Alexander Albrecht als Uraufführung. Mitwirkende sind Michael Sanderling (Dirigent), Susanne Bernhard (Sopran), Bettina Ranch (Alt), Daniel Behle (Tenor), Thomas Stimmel (Baß und Sprecher), Lara Arabi (Sprecherin), Alaa Zouiten (Oud), Holger Gehring (Orgel) sowie der Philharmonische Chor Dresden.