Einmalig und kaum wiederholbar: Ragna Schirmer spielt auf sieben Flügeln
Ragna Schirmer kann nicht nur spielen, sondern auch vermitteln – Clara Schumann liegt ihr am Herzen, Photo: NMB
Die Festtage Leipziger Romantik stehen in diesem Jahr im Zeichen Clara Schumanns. Die Pianistin Ragna Schirmer war in den vergangenen Tagen bereits an einem Musik-Theater-Spaziergang (Sonntag, Abtnaundorf) sowie an der Wiederaufführung eines historischen Gewandhauskonzertes vom 9. November 1835 (Montag, Paulinum) beteiligt, gestern lud sie in den Hörsaal der Anatomie zu einem Konzert auf sieben (!) Flügeln ein.
Es dürfte ein Traum nicht nur von Ragna Schirmer gewesen sein, in einem Konzertabend dem Klang verschiedener Werke auf den Instrumenten ihrer Entstehungszeit nachzuspüren – so etwas läßt sich selbst bei Vorführungen in Musikinstrumentemuseen nicht nachvollziehen. Normalerweise konzentriert man sich im Konzert auf die Stücke und die Interpretation des Künstlers, hier nun kam (mindestens) eine weitere Erlebnisebene hinzu: die Individualität des jeweiligen Klaviers. Schon früh hatten manche Flügel einen Klang, der unseren Gewohnheiten durchaus entgegenkommt. Das Instrument aus der Werkstatt von Ignaz Pleyel zum Beispiel, 1846 gebaut, ist bereits ein »richtiger« großer Konzertflügel. Trotzdem kann man wahrnehmen: die Bässe scheinen schwerer, die Höhen leichter als beim Steinway. Ragna Schirmer ließ Frédéric Chopins Walzer cis-Moll (Opus 64 Nr. 2) und Impromptu As-Dur (Opus 29) in warmen Tönen erklingen – diese Lebendigkeit sollte den ganzen Abend prägen. Pastell klangen gerade schnell gespielte Passagen, weniger »klar«, als man es sonst hört, dafür aber mit größerer Farbigkeit.
Die Flügel, so die Pianistin zwischendurch im von Peter Korfmacher moderierten Gespräch, erinnerten sie an die Pferde zwei Tage zuvor, die im Grunde ebensolche Charaktere hatten, scheu oder »eigen« seien – auch ein Klavier brauche eben Zuwendung.
Kenntnis ist ebenso vonnöten, soll Musik angemessen aus ihnen hervorgezaubert werden. Eines der eindrücklichsten Hörerlebnisse war Ludwig van Beethovens »Mondscheinsonate«, gespielt auf einem Grand Piano von John Broadwood (1803). Es verfügt über eine besondere Mechanik, die es im Gegensatz zu nahezu allen anderen Modellen erlaubt, den ersten Satz (wie vom Komponisten gewünscht) mit angehobenen Dämpfern zu spielen, ohne daß das Stück »verschwimmt«. Viel »kleiner« als der große Pleyel klingt der Broadwood noch deutlich nach einem frühen Hammerklavier, hat sogar noch eine silbrige Färbung ähnlich einem Cembalo, was einen ganz besonderen Zauber hervorbringt. So schien es, als ob der Baß subtil etwas Unheilvolles durchschimmern ließe …
Noch etwas silbriger und »cembalonesker« klang der Anton-Walter-Flügel von 1795, übrigens der einzige Nachbau an diesem Abend. An ihn wechselte Ragna Schirmer für die Sätze zwei und drei, denn für das ursprünglich für Walter geplante Stück, Clara Schumanns Scherzo Nr. 2, hat dieser schlicht einen zu kleinen Tonumfang. Höchst interessant war der Vergleich der wärmeren Klangfülle des Broadwood und des feineren Walter mit einem noch höheren »Silbergehalt«, der wiederum ein regelrechtes Vibrato entwickeln konnte.
Viele der historischen Flügel verändern ihren Charakter je nach Tonlage mehr oder weniger. Den Komponisten der damaligen Zeit war dies bewußt – sie kannten es nicht anders – und sie schrieben ihre Stücke entsprechend. Und wenn eine Kennerin wie Ragna Schirmer spielt, welche die Individualität der Instrumente mit Leben auszufüllen versteht, stellt sich im Vergleich zum modernen Konzertflügel nicht der Eindruck eines Mangels oder Mankos ein.
So auf dem Broadwood, für den sie für Clara Schumanns Scherzo zurückkehrte. Ein solches Instrument (oder ein sehr ähnliches) hatte Clara Schumann übrigens in England gespielt. Eines der damaligen Konzertprogramme (vom 15. Februar 1872 in St. Leonards-on-Sea) hat Ragna Schirmer nun auf ihrer jüngsten Einspielung »Madame Schumann« (2 CDs, erschienen bei Berlin Classics) festgehalten (unsere CD-Rezension folgt demnächst).
Zu Clara Schumann, ihrer Person, Ehe und Karriere führte auch die Musikwissenschaftlerin Claudia Forner noch manches aus, bevor es in die zweite Hälfte ging. Zusammenfassend läßt sich feststellen: Clara Schumann war eine beeindruckende Persönlichkeit und Pianistin, die für ihr Wirken geachtet und verehrt wurde und wird – eines »Genderbonus« bedarf sie nicht.
Der Abend schlug die Brücke in unsere Zeit ganz pragmatisch: an Auszüge aus Robert Schumanns Impromptus Opus 5 schloß Ragna Schirmer – beides auf dem modernen Steinway gespielt – eine Auftragskomposition von Svenja Reis an. Die erst neunzehnjährige Komponistin hatte für ihr Werk recht große Freiheiten bekommen, allein ein Bezug zu Clara Schumann war selbstredend wichtig. Das Stück »Ihr Wesen« gibt nicht vor, dasselbe Wesen] einfach oder eindimensional zu erfassen, sondern zeigt es vielschichtig und facettenreich. In reflektierende Passagen hat Svenja Reis verarbeitete Zitate eingearbeitet, wobei hier Variationen von Clara Schumann über Themen Joseph Haydns sowie ihres Mannes zugrunde lagen – also zitierte, verarbeitete Zitatverarbeitungen.
Daß der Klavierbau nicht zu kurz kam, dafür sorgte der Klavierbauer und Restaurator Matthias Arens (er war auch an der Kopie des Walterflügels beteiligt). Und so erfuhr man schließlich, daß die drei großen »Leipziger Flügel« nicht alle aus Leipzig kamen: Traugott Berndt wurde zwar in Leipzig geboren, seine Werkstatt stand aber schließlich in Breslau, und das Instrument von Claras Cousin Wilhelm kam aus Dresden bei Leipzig …
Einen besonderen Eindruck hiterließ jedoch zunächst der Blüthner-Flügel von 1857, auf dem Ragna Schirmer Clara Schumanns Variationen Opus 20 über ein Thema ihres Mannes spielte. Hell, warm und kräftig hat das Instrument bereits einen großartigen Klang. Im direkten Vergleich wirkten Berndt (Mendelssohn / Rondeau Capriccioso) und Wieck (Schumann / Carnaval in der Fassung von Clara Wieck) gedeckter oder – individueller.
Denn eines war ganz klar: Schönheit ist individuell, man muß ihre Eigenschaften, Eigenheiten und Vorteile erkennen. So war der Abend ausgefüllt mit wundervoller Musik – so wird man das wohl kaum wieder erleben. Und die Erkenntnis? Mögen historische Instrumente vielleicht speziell etwas für Freunde historischer Instrumente sein, die Individualität und Vielfalt der Modelle ging uns zuletzt verloren, weil auf einen (sicherlich sehr guten) Standard gesetzt wurde. Das scheint sich gerade zu ändern – hoffen wir also künftig für ganz normale Konzerte, vielleicht im Gewandhaus zu Leipzig, auf mehr Bechstein, Bösendorfer oder Fazioli. Oder Blüthner.
Den Abend beschloß Ragna Schirmer so, wie Clara Schumann es gerne machte: sie wiederholte das Stück, das am besten vom Publikum angenommen worden war. In diesem Fall: der erste Satz der Mondscheinsonate.
22. Mai 2019, Wolfram Quellmalz