Kreuzchorvesper zur Amtseinführung von Martin Lehmann
Vesperveranstaltungen sind oft eine Art Kreuzungspunkt, eine Begegnungsstätte: einerseits eine (»leichtere«) Andacht, andererseits durch ein attraktives musikalisches Programm auch für Menschen interessant, die nicht gläubig sind. Wenn sie noch dazu besonderen Anlässe folgen oder vorausgehen, kann es ungemein festlich werden. Die gestrige Kreuzchorvesper war nicht nur auf den bevorstehenden Michaelistag (29. September) bezogen, sondern darüber hinaus mit der Amtseinführung des neuen Kreuzkantors Martin Lehmann verbunden. Sie geriet nicht nur besonders festlich, sondern in einem fast schon Übermaß schön. Mit dabei waren zahlreiche Gäste, neben ehemaligen Kruzianern und dem vormaligen Kreuzkantor Roderich Kreile (der sich an den Fürbitten beteiligte) viele Vertreter von Stadt und Land, der (musikalischen) Partner. Auch der Kollege aus Leipzig, Thomaskantor Andreas Reize, wurde gesichtet.

Nicht nur der Chor wirkt erfrischt und bestens aufgestellt, selbst der Ablauf der Vesper scheint lebendiger geworden zu sein. Dazu genügen mitunter kleine Maßnahmen: wenn der Kreuzchor einmal pausiert, entsteht keine Pause, weil er abtritt oder danach wieder von den Seiten einzieht, sondern dies geschieht nun nebenbei. So stellten sich die Jungen beim Vorspiel zum Gemeindelied EG 331 »Großer Gott, wir loben dich« wieder im Altarraum auf und sangen den Hymnus mit, in den neben der obligaten Orgel (Kreuzorganist Holger Gehring) schließlich noch das Orchester einstimmte. Daß die Chorverstärkung dabei die Mehrstimmigkeit hervorhob, versteht sich fast von selbst. Schon solche kleinen Maßnahmen sorgen also dafür, daß der Ablauf der Vesper weniger statisch wirkte. Dabei wird etwas fortgesetzt, was in den letzten Monaten bereits für neue Akzente gesorgt hat: die Liturgie wird stärker berücksichtigt, setzt sachte, sinnige Betonungen.
Die Flexibilität des Chores spürte man außerdem in der Rollenverteilung bzw. deren Ausführung: Nachdem der Kreuzchor mit Gottfried August Homilius‘ Motette »Domine, ad adjuvandum me« (HoWV IV.1) für einen hellen, festlich Beginn gesorgt hatte, folgte – auch das ist neu und doch schon aus der ersten Vesper des neuen Schuljahres bekannt – ein Introitus zum Michaelisfest, das Wilfried Krätzschmar extra für den Chor und diesen Anlaß verfaßt hatte. Die Sänger waren dafür in zwei Gruppen asymmetrisch geteilt, hatten vortragende und wiederholende (betonende) Funktion. Nicht nebenbei vermerkt sei, wie schön und zugänglich diese zeitgenössische, den Adressaten zugewandte Musik von der Gemeinde aufgenommen wurde. Auch Heinrich Schütz‘ »Herr, auf dich traue ich« (SWV 377) vermittelte neben dem reinen Text eine unbeirrte Lebenskraft und -hoffnung (oder schlicht Zukunftszuversicht) der jungen Sänger.
Den Effekt einer Repetition steigerte Martin Lehmann später noch um einiges, als er im Anschluß an die Fürbitte den kleinen Chor für Oskar Wermanns Motette »Vater unser« auf der Chorempore aufstellte und so wechselseitig singen ließ – ein ungemein berührender Augenblick! Daß Wermann einst auch Kreuzkantor war (vor Otto Richter und Rudolf Mauersberger) schloß gleich noch einen Kreis …

Solcher Momente gab es noch einige, und Indizien, die für einen glücklichen Beginn der neuen Amtszeit sprechen: die Kruzianer Adam Eckhardt (Alt) und Theo Krautz (Sopran) hatten in Johann Sebastian Bachs Kantate zum Michaelisfest »Herr Gott, dich loben alle wir« (BWV 130) Soli. Beider Vortrag war von einer Sicherheit geprägt, einem Selbstbewußtsein ohne bemühtes Forcieren, das bei so jungen Sängern nur beeindrucken konnte. Theo Krautz‘ Duett mit Henning Jendritza im Rezitativ »Wohl aber uns, daß Tag und Nacht« gehörte ebenso zu den ungemein berührenden, ja beflügelnden Momenten. Daß Henning Jendritzas Tenor an Schönheit nichts zu wünschen übrigließ, an Verständlichkeit jedoch sehr viel, war eigentlich das einzige, was musikalisch nicht glücklich gelang an diesem Nachmittag, der noch ein weiteres Mal durch das Dresdner Amen (Stichwort: Liturgie) in einen besonderen Rang gehoben wurde.
So gab es auch kein Wort zum Sonntag in der gewohnten Form. Schließlich war die Amtseinführung selbst noch mit einem kleinen Ritus verbunden, den Landesbischof Tobias Bilz leitete. Martin Lehmann nahm – nun nicht nur offiziell, sondern öffentlich – das Amt an und versprach, »nach bestem Können und mit aller Kraft dem Amt zu guter Ausstrahlung [zu] verhelfen« und bedankte sich für das damit verbundene Vertrauen.
Das Bild der sich schließenden Kreise ist viel zu eng und eindimensional, um es hier mehrfach zu belehnen, selbst wenn es im Einzelfall treffend scheint. Daß das Philharmonische Kammerorchester Dresden die Vesper zum Beispiel unterstützte, läßt ebenso auf künftige Andachten und Konzerte (auch mit der gesamten Dresdner Philharmonie) hoffen wie die Begleitung durch Kreuzorganist Holger Gehring an der großen und der Truhenorgel – flexibel eben, nicht allein vielgliedrig. Solche Programmgestaltung ist nicht allein »schön«, sie erreicht die Zuhörer oder Gemeinde vor allem wegen ihrer durchdachten Geschlossenheit. Wozu noch eine weitere Motette gehörte: Rudolf Mauersbergers »Ich will dem Herrn singen mein Leben lang« (RMWV 44). Geschlossene Kreise …
25. September 2022, Wolfram Quellmalz
Schon am kommenden Sonnabend gibt es eine weitere Kreuzchorvesper. Am 1. Oktober widmen sich Kreuzkantor Martin Lehman und der Kreuzchor dem Erntedank. Weitere Beteiligte: Jonathan Auerbach (Orgel), Holger Milkau (Liturgie). Weitere Informationen unter: http://www.kreuzkirche-dresden.de