Palastorganist Olivier Latry und Eric Le Sage an drei Instrumenten im Dresdner Kulturpalast
Olivier Latry ist nicht nur einer der weltbesten Organisten, er ist zudem ein hervorragender Vermittler und Botschafter seines Instruments. Man hätte sich kaum einen besseren wünschen können, um die Konzertsaalorgel im Dresdner Kulturpalast zu etablieren. Ein Teil der Erfolgsgeschichte, das darf man mittlerweile feststellen, geht also auf sein »Konto«. Und Olivier Latry kommt offenbar gern nach Dresden – das Instrument der Firma Hermann Eule Orgelbau Bautzen, das Publikum und die Umgebung reizen ihn nicht minder, an die Elbe zurückzukehren.
So konnte man in den letzten Jahren schon manchen Erkundungsgang mit Olivier Latry erleben, der selbstverständlich Bach und französische Orgelsinfonik spielte. Nun war es wohl Zeit für etwas neues, aber vielleicht bot Dresden auch die passende Stätte für ein Experiment, eine Musikbegegnung. (Das Konzert bzw. ein solches hatte schon vor zwei Jahren stattfinden sollen, mußte damals aber abgesagt werden.) So war gestern abend Pianist Eric Le Sage als Partner zu Gast, Olivier Latry spielte neben der Orgel Harmonium. Es zeigte sich: die chromatische Palette war noch größer, die Varianten vielfältiger, die Orgel beeindruckte letztlich trotzdem am meisten, gerade wegen ihrer Erhabenheit, die so kein Klavier und erst recht kein Harmonium hervorbringen kann.
Dieses (Harmonium) liegt im Klang oft zwischen Orgel und Akkordeon, was reizvoll ist, mitunter kurios, und einen überraschend nonchalant-französischen Ton erzeugt, wie schon Joseph Jongens »Hymne« für Harmonium und Klavier zeigte. Das Stück war eines von vielen Arrangements an diesem Abend, für manche Bearbeitung zeichneten die beiden Künstler selbst verantwortlich.
Während Jongens Hymnus noch nicht offen hervortrat, sondern im schwebenden Klang der Instrumente versteckt hielt, wurde Jean Langlais‘ »Diptyque« für Orgel und Klavier mit einer stärkeren Artikulation um einiges »greifbarer«. Zunächst jene des Klaviers, das vom Alleskönner Orgel wie von einem Orchester umschlossen war, später übernahm Olivier Latry ebenso die Führung bzw. Melodie – sein Instrument verfügt über verschiedene Stimmcharaktere und kann gegebenenfalls »die Seite wechseln« zwischen Solist und Orchester.
Zunächst blieben Eric Le Sage und Olivier Latry noch bei Komponisten, die gerade für ihre Orgelwerke bekannt sind oder die als Organisten berühmt waren. So kann man Prélude, Fugue et Variation h-Moll von César Franck bei Orgelfreunden als bekannt voraussetzen, in der Fassung für Harmonium und Klavier war es natürlich eine neue Erfahrung. Wieder zeigte sich, daß das Harmonium oft im Klang »dazwischen« klingt, aber auch über eigene, typische Charakterzüge verfügt.
Eric Le Sage, der bereits Gast bei der Dresdner Philharmonie gewesen ist, die gestern abend eingeladen hatte, ist ein vorzüglicher Pianist, der nicht nur französisches Repertoire beherrscht, sondern sich dezidiert mit deutschen Komponisten auseinandergesetzt hat. Seine Aufnahmen von Werken Johannes Brahms‘ und Robert Schumanns zeugen ebenso dazu wie ein Erster Preis beim Internationalen Robert-Schumann-Wettbewerb in Zwickau (1989). Sein Überraschungsstück gestern war Gabriel Faurés Nocturne Nr. 6 – längst war es Zeit, zu bekennen, daß sich der Kreis der Nocturne-Komponisten nicht auf John Field oder Frédéric Chopin begrenzen läßt. Faurés Stück ist komplex, beinahe spektakulär, vereint technischen Anspruch und Ausdruck, atmete in der Interpretation Eric Le Sages aber auch die Freiheit einer Phantasie – Vitalität traf Raffinesse.
Insofern war das Stück kein Ruhe- sondern ein Achtungspunkt, bevor mit Paul Dukas‘ »Der Zauberlehrling« das wichtigste und titelgebende Werk auf dem Programm stand. Wenn wohl die meisten Francks Prélude, Fugue et Variation kannten, dürfte beinahe jeder schon einmal Dukas‘ »Zauberlehrling« gehört haben, nicht zuletzt, weil das Stück eine der bekanntesten Balladen Johann Wolfgang von Goethes illustriert. Insofern waren die gedanklichen und erinnerten Vergleichsmöglichkeiten groß, die Freude daran, Orchesterfarben einmal so zu hören, ebenso. Nicht nur die Ströme wallenden Wassers, auch Blitze schienen durch den Saal zu zucken – es gibt wohl kaum eine Möglichkeit, eine Form von Gewalt (im Sinne von gewaltigen Zauberkräften, überwältigender Wucht) kunstvoller oder besser darzustellen als mit der Macht und Pracht der Orgel!
Nach der Pause gab es gleich die nächste Hörüberraschung, denn das Adagio assai aus dem Klavierkonzert G-Dur von Maurice Ravel hat man so – mit Orgel und Klavier – wohl noch nie gehört (Bearbeitung: Olivier Latry). Der Beginn des Soloklavierparts indes schien weniger Spannung zu haben als sonst, der Einsatz der Orgel fiel im Vergleich mit der Orchesterfassung stärker akzentuiert, fast heftig aus. Später, als der durch Holzbläserregister quasi konkreter wurde, geriet der Satz feiner, gewann Nocturne-Qualität.
Allein französisch oder ganz ohne Bach wollte Olivier Latry wohl nicht in Dresden sein. Kenner und Konzertwiederkehrer wissen dabei, daß er ein vertieftes Verhältnis zum berühmten Thomaskantor pflegt. Zudem war sein Choralvorspiel »Aus tiefer Not, schrei‘ ich zu dir« (BWV 686) die Inspiration für das nachfolgende Stück gewesen: Thierry Escaich hatte sich 2001 davon zu seinem »Choral’s Dream« für Klavier und Orgel anregen lassen. Gleichzeitig war dies eine weitere Wiedervereinigung, denn Thierry Escaich war in Person und als Urheber von Stücken bereits mehrfach an dieser Orgel zu Gast gewesen. Sein »Traum« lebt von ausgeprägten Soli und Gegensätzen, erneut blieb die Orgel in der Höhe wie im Baß eindrucks- und wechselvolle Darstellerin. Dabei zeigte sich ein weiteres Mal, daß technischer Anspruch nicht zu einer virtuosen Schau führen muß, sondern eine klare Artikulation wichtig ist, selbst dann, wenn die Musik nicht vordergründig kantabel ist – im Gesang gibt es schließlich Vokale und Konsonanten!
Mit George Gershwins »Rhapsodie in Blue« schloß ein launiger Hit das offizielle Programm ab. Kadenzartig schienen Eric Le Sage und Olivier Latry, zwei Flaneuren gleich, musikalisch durch den Raum zu schweifen. Die Orgel ist nicht nur erhabener, sondern auch edler im Klang – das Harmonium hatte in der zweiten Konzerthälfte deshalb vorläufig ausgedient.
Aber nur vorläufig, denn mit Camille Saint-Saëns‘ Cantabile gab es noch ein Überraschungsarrangement für Klavier und Harmonium. Und die nächste Überraschung war nicht weit – eine Autogrammstunde nach dem Konzert, das gab es seit über zwei Jahren so nicht mehr …
8. April 2022, Wolfram Quellmalz

Eben auch auf deutsch erschienen: Olivier Latry »An der Orgel von Notre-Dame. Gespräche mit Stéphane Friédérich«, 176 Seiten, broschiert, mit zahlreichen Abbildungen, Musikverlag Dr. J. Butz (€ 15,00)

Die besondere Empfehlung des Rezensenten: Es ist nicht Eric Le Sages neueste Aufnahme, aber eine besonders schöne: Gabriel Faure »Kammermusik 2 – Klavierquartette«, mit Eric Le Sage (Klavier), Daishin Kashimoto (Violine), Lise Berthaud (Viola) und Francois Salque (Violoncello), erschienen bei Alpha